Aus dem Raster gefallen: Schweizer Design in einem Land ohne rechte Winkel

Sucht man Rapperswil, Schweiz, in Google Earth, findet man einen grauen Klecks von Stadt, der sich auf einem verzweigten Strassennetz in einem unregelmässigen Flickenteppich aus grünen Tälern ausbreitet, die sich an die Ufer der knubbeligen blauen Banane klammern, die man Zürichsee nennt.

Und kein einziger rechter Winkel in Sicht.

Aber genau in dieser Stadt wurde der legendäre Designer Josef Müller-Brockmann geboren, der das Schweizer Design zu einem Synonym für International Style machen sollte, indem er das möglicherweise einflussreichste Instrument der modernen Designgeschichte popularisierte: das Rastersystem.

Natürlich hat nicht Brockmann das Raster erfunden. Bereits 1500 v. Chr. wurden chinesische Strassen rasterförmig angelegt. Die Indianer spielten Schach und die Niederländer erfanden im Mittelalter das Waffeleisen. Aber auf Rastern zu laufen, zu spielen oder zu essen, hat die Welt dann doch nicht auf die quadratische Revolution Brockmanns vorbereitet, der das Rastersystem auf die Kommunikation anwandte.

Das Gestaltungsraster ist ein Ordnungssystem aus gleichmässig verteilten Linien, das die Anordnung von Texten und Bildner in einem Seitenlayout erleichtert. Eine Spezialität von Brockmann waren Plakate und in seinen Arbeiten scheinen die typographischen Elemente perfekte mathematische Beziehungen zueinander einzugehen. Selbst wenn überhaupt keine Linien vorhanden sind, spürt man das formgebende, strukturierende, führende und beschränkende Rastersystem.

Aber genau das letztere Adjektiv wird heute wohl mehrheitlich Stirnrunzeln auslösen: beschränkend. Aber gibt es in einer Welt, in der keine zwei Menschen gleich sind, in der uns die sozialen Netzwerke sozusagen ein Megaphon in die Hand drücken, damit wir unsere Individualität ins Internet hinausrufen können, in der das Personalpronomen im Singular von iPhones bis MySpace (und #MyProdir!) Priorität geniesst, überhaupt noch Platz für so etwas wie Beschränkung?

Mehr denn je.

Denn genauso wie die ausladenden Berggipfel und mäandernden Täler die Schweizer Topographie charakterisieren, erscheint die Welt der Ideen in unseren Köpfen formlos, chaotisch und wild. Und um diese Ideen kommunizieren und mit anderen austauschen zu können, müssen wir sie bändigen, ihnen Linie, Struktur und Form verleihen. Das ist die einzige Möglichkeit, uns verständlich zu machen.

Brockmann war der erste, der unumwunden zugegeben hat, er könnte seine eigene Ordnungsliebe bis zum Punkt der Langeweile treiben. Aber er wusste auch, dass wir Menschen – wenn wir auch keine Berggipfel abflachen, Flüsse begradigen oder die ungleichmässige Bananenform eines Sees verändern können, an dem er sein Leben lang gewohnt hat – Ordnungen und Regeln auf die Welt unserer Beziehungen und unserer Kommunikation anwenden können: für ein besseres Zusammenleben.

In einem Land, das durch Serpentinen und Haarnadelkurven geprägt ist, ist immer noch das Raster einer klaren, kompromisslosen Kommunikation die Form, die die Schweizer am stärksten charakterisiert.

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