In der Vorstellung der meisten Menschen ist die Schweiz der Ort ordentlich geschnittener Wiesen, von Luxusuhren und in Folie verpackter Schokoladentafeln – das ist alles richtig, aber parallel dazu existiert erstaunlicherweise eine schrägere, eine dunklere Seite, die seit Jahrhunderten Horrorvisionen und psychologische Untersuchungen inspiriert.
Die lange Geschichte der Schweiz im Bereich des Dunklen und Übernatürlichen begann schon vor langer, langer Zeit. Der Legende nach leben in den versteckten Winkeln und dunklen Tälern unserer perfekten Postkartenbergwelten Wesen aus Legenden und Mythen, Kreaturen, die den Menschen in vieler Hinsicht behilflich sein können, die aber auch hinterhältig sind oder, schlimmer noch, ihnen gefährlich werden können. Da gibt es zum Beispiel die Barbegazi, in grosser Höhe skilaufende Gnome oder der Stollenwurm, eine an die zwei Meter lange Schlange mit kurzen Stummelbeinen, einem Katzengesicht und giftigem Atem. Und dann haben wir noch bösartige kleine Dämonen der Nacht, die den Menschen beklemmende Albträume eingeben, wenn sie sich nachts auf die Brust der Schläfer hocken. Dies Bild des Schreckens ist am bestem in dem berühmten Gemälde Der Albtraum von Heinrich Füssli aus dem Jahr 1781 verewigt.
Die Schweizer Landschaft mit ihrer Mischung aus Schönheit und Abgrund, all das, was die Romantiker als das Erhabene bezeichneten, hat sich darüber hinaus auch als perfekter Hintergrund für Erzählungen von Monstern und flagrantem Wahnsinn erwiesen – und obendrein für die Schaffung einer der grössten Geschichten des Horror-Genres überhaupt. Im Jahr 1816 verbrachte eine Gruppe englischer Schriftsteller, zu denen neben Mary Shelly auch ihr Mann Percy Shelley, Lord Byron und John Polidori gehörten, gemeinsam einen überraschend kalten und trostlosen Sommer in der Villa Diodati am Genfer See. Übrigens hatte Mary Shelleys Mutter, die Philosophin und Autorin Mary Wollstonecraft, einst eine Affäre mit dem Maler Füssli … doch zurück zu jenem Sommer: Das ungewöhnliche Wetter und die dräuende Bergwelt inspirierten die Autoren dazu, Gruselgeschichten zu schreiben. So schuf in jenen stürmischen und dunklen Nächten Mary Shelly ihr bekanntestes Werk Frankenstein und John Polidori die Novelle Der Vampyr, die erste Vampirgeschichte der Weltliteratur. Damit schufen die Beiden Vorlagen für die Gruselliteratur der kommenden 200 Jahre.
Im 20. Jahrhundert war die Schweiz auch der Ort, an dem Psychologen mittels der neuen Wissenschaft der Psychologie des Unbewussten die oft dunklen Abgründe der Menschheit erforschten. Der in Zürich gebürtige Psychologe Hermann Rorschacher entwickelte seinen berühmten Tintenklecks-Test, um das Krankheitsbild der Schizophrenie auszuloten. Zur gleichen Zeit gewann der aus dem Schweizer Kanton Aargau stammende Carl Jung durch sein Konzept des Schattens ein einzigartiges Verständnis der dunklen Seite des menschlichen Wesens. Jung betrachtete unsere dunkleren Impulse als wichtigen Teil unserer Psyche, der danach verlangte, intensiver erforscht zu werden. Für Jung bedeutete der Schatten nicht nur die dunkle Seite unseres Selbst, sondern er war darüber hinaus verbunden mit einem kollektiven Unbewussten, das erfüllt ist von Urängsten und Trieben. Viele davon kommen auch in Mythen, Legenden und Märchen zum Ausdruck, die zum Beispiel von Gnomen, Riesenschlangen und nächtlichen Dämonen handeln. Jung schlug in seiner Arbeit vor, wahre psychologische Gesundheit bedeute, sich mit diesen Schatten auseinanderzusetzen statt sie zu leugnen.
Ein Schweizer Künstler, der sich frei von allen Skrupeln mit dieser dunklen Seite beschäftigte, war H.R. Giger. Der gebürtige Churer ist der Schöpfer des vielleicht schrecklichsten Monsters, das je in einem Film aufgetreten ist, die Rede ist von der Kreatur aus dem Weltraum-Horrorfilm Alien aus dem Jahr 1979. Mit seinem freakigen, länglichen Kopf, der entblössten Skelett-Struktur, dem säurehaltigen Blut und seinen multiplen Kiefern mit verheerenden Zahnreihen, ist er wahrhaft eine Kreatur aus einem Albtraum. Und mit dieser Beschreibung nennen wir nicht einmal all seine anderen fürchterlichen Lebensphasen zunächst als Ei, das sich explodierend in Gesichter saugt und danach als Embryo, der die Brust seines Wirts sprengt. Gigers dunkle, biomechanische Visionen wurden zuerst in seinem 1977 erschienen Buch Necronomicon zusammengestellt. Und als der Drehbuchautor von Alien dieses Buch dem Regisseur des Films, Ridley Scott, zeigte, erkannte der umgehend, dass Giger der Schlüssel dafür war, seinen Alien zu dessen grässlichem Leben zu erwecken. Giger starb im Jahr 2014, aber seine Kreation lebt in zahlreichen Fortsetzungen und an sein Werk angelehnte andere Filme der Alien-Lizenzen fort. Seine Kunst hat Film-, Musik- und Tattoo-Künstler auf der ganzen Welt inspiriert.
Obwohl es von Gigers futuristischem, biomechanischem Albtraum ein weiter Weg bis hin zu den volkstümlichen Gnomen und nächtlichen Dämonen sein mag, so sind doch alle ein Teil einer einzigartigen Schweizer Tradition, nämlich die gruseligsten menschlichen Urängste sichtbar zu machen. Natürlich sind in der Schweiz auch heiterere Schöpfungen wie die Kuckucksuhr, die Milchschokolade oder die Schriftart Helvetica beheimatet, aber das Land, das ausserdem den Dadaismus und die Droge LSD hervorgebracht hat, ist sich sehr wohl bewusst, dass in den Schatten der Berggipfel oder vergraben in den Tiefen unserer Psyche oft wirklich Unheimliches lauern kann.