Die Forschungsprojekte über Handschrift der Neuropsychologin Audrey van der Meer zeigen deutlich, was auf dem Spiel steht, wenn die Handschrift an Schulen überflüssig wird. Stichwort: Es geht um unser Gehirn.
Van der Meer, Gehirnforscherin und Professorin für Neuropsychologie an der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technik (NTNU) in Trondheim steht digitalen Geräten nicht wirklich ablehnend gegenüber. Sie selbst verwendet für das Schreiben ihrer Artikel und Berichte auch eine Tastatur. Doch wenn man etwas tatsächlich behalten will, sagt sie, sei es in einer Vorlesung oder einfach nur eine Einkaufsliste, so empfehle sie, einen Stift zur Hand zu nehmen und es aufzuschreiben.
Wie ist sie zu diesem Schluss gekommen? Und was veranlasste sie ursprünglich dazu, die Verbindung zwischen Gedächtnis, Lernen und handschriftlichem Schreiben zu untersuchen? Laut Van der Meer, die mit Prodir ein Interview per Email führte, war es eine Abfolge von Ereignissen in Zusammenhang mit ihrer langjährigen Faszination für frühe menschliche Entwicklung und Lernfähigkeit.
„Im Jahr 2015 nahm Mircrosoft Europa Kontakt mit uns auf, weil sie auf unsere Elektrodennetze gestossen waren, die uns einen Blick ins Innere des Gehirns von Babys und Kindern geben, um zu beobachten, was in ihrer Entwicklung und während verschiedener Lernprozesse dort geschieht. Sie wollten wissen, ob wir Interesse daran hätten, ein Experiment zu entwickeln, das das Gehirn während verschiedener Schreibaktivitäten untersuchen könnte.“
Van der Meer und ihr Team bekamen vollkommen freie Hand, und sie entwarfen ein Experiment auf der Grundlage des beliebten Partyspiels „Pictionary“, bei dem StudentInnen die Aufgabe bekamen, Bilder von vorgegebenen Wörtern mit einem digitalen Stift zu zeichnen, die Wörter dann mittels einer Tastatur einzugeben und eine Beschreibung der Wörter zu tippen.
Obwohl das Team vor Beginn des Experiments erklärte, dass sie keine Ergebnisse garantieren könnten, gelangten sie durch dieses Experiment 2017 zu dem Schluss, dass das Hirn beim Zeichnen sehr viel mehr arbeitet als beim Tippen. Im Anschluss daran stellten sie die wegweisende Frage: Und wie steht’s mit der Handschrift?
2020 wurden die Versuchsbedingungen auf handschriftliches Schreiben ausgeweitet, und das Team fand heraus, dass obwohl Zeichnen und Schreiben mit der Hand auf denselben zugrundeliegenden neuronalen Mechanismen beruhen, das Schreiben mit der Schreibmaschine anders ist, und dass das Gehirn nicht in derselben Weise aktiviert wird wie bei der Verwendung eines Stifts.
In Anbetracht dieser Ergebnisse und im Zusammenhang mit ihrem jüngsten Bericht, wonach der Vernetzungsgrad des Gehirns beim Schreiben mit einer Tastatur im Vergleich mit handschriftlichem Schreiben nicht in gleicher Weise ausgeprägt ist, stellten wir die Frage, ob das das Ende der Technologie im Klassenzimmer bedeuten könnte.
„Ich möchte hier wirklich nicht als Pessimistin für die nächste Generation gelten, die hauptsächlich in einer digitalen Welt aufwächst, aber unsere Studien belegen eindeutig, dass handschriftliches Schreiben eine herausragende, feinmechanische Fertigkeit darstellt, die für das sich entwickelnde Gehirn eine aussergewöhnliche Stimulation darstellt.“
Obwohl diese wichtigen neuronalen Netzwerke, die Kinder beim Schreiben mit der Hand ausbilden, für den Lernprozess, die Gedächtnisleistung und die Aufmerksamkeit von entscheidender Bedeutung sind, wendet sich Van der Meer gegen eine vollkommene Abkehr von Technologie im Klassenzimmer.
Wenn man die Bedeutung des handschriftlichen Schreibens akzeptiert, muss das in letzter Instanz nicht heissen, dass man im Unterricht an der Vergangenheit festhalten muss. Unser Gehirn arbeitet nach dem Prinzip: „Benutze es oder verlier es.“ Und auch wenn wir diesen Aspekt unseres Lernens nicht ändern können, so können wir doch unsere Gewohnheiten wandeln. Für den Schulunterricht bedeutet das, ein bisschen weniger Zeit mit Tabletts zu verbringen und dafür ein klein wenig mehr Zeit mit dem Stift in der Hand.
Die Forschungen von Professorin Audrey van der Meer und anderen renommierten Wissenschaftlern und Gelehrten wurden für den Notizbuchhersteller Moleskine zur Inspiration für ihre neuste Werbekampagne „Stift und Papier“, die am 22. April startet. Dort werden verschiedene Studien und Zitate auf den Plakaten der Kampagne graphisch dargestellt und diese werden während der Design Woche überall in und um Mailand gezeigt.