Bionic reading: Ist schneller wirklich besser oder worum geht’s hier eigentlich?

Der Schweizer Typographie-Experte Renato Casutt hat eine App entwickelt, die besseres Lernen ermöglichen soll: Sie verändert Textpassagen durch wenige Eingriffe so, das sie leichter und schneller zu verstehen sind.

Text wird (wie in dieser Textprobe hier) umgewandelt, indem bestimmte Teile derrter hervorgehoben werden, um unserem Gehirn die Aufnahme von Informationen leichter zu machen.

Was meinen Sie? Finden Sie auch, dass das hier leichter zu lesen ist?

In unserer schnelllebigen Zeit ist die Menge der Methoden und Werkzeuge, die für sich beanspruchen, uns effizienter arbeiten zu lassen, kaum mehr überschaubar. Wir sind einem schier endlosen Informationsfluss ausgesetzt, der viele Menschen so lange unter Druck setzt, bis sie zur Überzeugung kommen, der Tag hätte einfach nicht genug Stunden, um all das zu bewältigen, was da bewältigt werden soll: Es fällt es uns immer schwerer, uns zu konzentrieren und unser Gehirn aufnahmebereit zu halten.

Bionic reading hat sich mit genau diesen Themen beschäftigt. Es macht Lesen mit Hilfe von Typographie und Technologie ‚schneller, besser und fokussierter‘. Ausgehend von der Vorstellung, dass das Gehirn schneller liest als das Auge, unterstützt die App den Lesefluss dadurch, dass sie die Leser mit einer Abfolge von typographisch hervorgehobenen Wortteilen durch den Text führt. Dadurch, dass man sich jeweils nur auf die hervorgehobenen Teile eines Worts konzentriert, soll es uns möglich sein, Zeit zu sparen und den Leseprozess zu vereinfachen.

Die App hat zahllose Fans gewonnen, von denen sich einige online sehr positiv äussern. Die App habe ihnen sehr dabei geholfen‚ ‚endlich wieder ein Buch zu Ende zu lesen‘ oder ‚ihr Gehirn zu 100 % nutzbar zu machen‘.

Doch trotz aller viralen Popularität und begeisterter Kritiken überzeugt das Konzept nicht alle. Seit Jahrzehnten wird Speed Reading unterrichtet, aber noch immer ist nicht klar, ob schneller wirklich auch besser ist. Denn schnell lesen kann negative Auswirkungen auf das Textverständnis haben. Es bleibt nicht nur weniger hängen, es kann sogar sein, dass man den Text erneut lesen muss, um zu begreifen, was man da gerade gelesen hat – was am Ende jede Art von Zeitgewinn zunichte macht.

Aber vielleicht geht die Frage, ob Bionic Reading funktioniert oder nicht, am Thema vorbei. Wahrscheinlich sollten wir uns eher fragen, was eigentlich daran so anstrebenswert sein soll, alles immer noch schneller zu tun. Wenn es darum geht, unsere Lesefähigkeit in einer lauten und hektischen Umgebung zu verbessern, wäre es da nicht sinnvoller, einfach diese laute Umgebung zu verlassen, anstatt Wörter auf einer Seite optisch zu verändern? Vielleicht gelingt uns das eines Tages, wenn wir Lesen wieder als Erlebnis und Freude erleben und nicht als Rennen gegen die Zeit.

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