Lass die Gedanken frei fliessen

Handschriftliches Schreiben ist mehr als eine motorische Fähigkeit. Es ist eine Form der Selbstdarstellung, es ist eine kulturelle Handlung und für Professor Paolo Pellicini ein Ausdruck von Schönheit.

Pellicini stammt aus Italien, er unterrichtet Geisteswissenschaften und Philosophie in Lugano, in der Schweiz: „Mit der Hand zu schreiben”, sagt er, „erzieht Kinder zur Schönheit, denn was uns in der Welt auszeichnet, ist eine elegante Kaligrafie und damit ein grosser Teil vom Made in Italy, für das wir in der Welt berühmt sind.“ Er bezeichnet Schreibschrift nicht ausschliesslich als kognitive Fähigkeit, vielmehr ist es für ihn ein Ausdruck ästhetischen Erwachens.

„Zumindest zu Beginn”, fährt er fort, „müssen Kinder sich die Zeit nehmen zu begreifen, wie man einen Buchstaben formt, und das weckt ihre künstlerischen Fähigkeiten. Sie entdecken sehr schnell, was ihre eigene ‚künstlerische Ader‘ ist und machen dann mit ähnlichen Tätigkeiten weiter.“

Seiner Ansicht nach ist die Handschrift nicht nur ein praktisches Werkzeug, es ist eine kreative Handlung, eine körperliche Verbindung zwischen Denken und Handeln. „Wenn man mit der Hand schreibt“, erklärt Pellicini, „gleitet der Stift über das Papier. Es ist kein Zufall, dass das Wort kursiv sich vom lateinischen currere herleitet – laufen. Schreiben bedeutet, dass die Gedanken frei laufen und fliessen.“

Diese Verbindung zwischen Geist und Hand, sagt er weiter, beginnt jedoch schon sehr viel früher mit Zeichnen und Malen. „Zeichnen fördert die Feinmotorik, das Einhalten von Grenzen, Präzision, Aufmerksamkeit und Konzentration.“ Für Pellicini ist Zeichnen nicht blosses künstlerisches Spielen, es ist kognitives Training. „Es ist die Vorstufe des Schreibens“, erklärt er, „darum müssen Kinder zum Zeichnen und Malen ermutigt werden.“

Dieselbe durchgehende Bewegung – zunächst beim Zeichnen, dann intensiver beim handschriftlichen Schreiben – untermauert die Art, in der die Handschrift die Gehirntätigkeit stärkt. „Handschriftliches Schreiben aktiviert einzigartige Synapsen, ganze neuronale Netzwerke, die das Lesen, das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und allgemein den Lernprozess befähigen.“ Seiner Meinung nach gehen diese Vorteile weit über das hinaus, was das Schreiben mit einer Schreibmaschine oder einem Computer bietet, und das gilt besonders für das kindliche Gehirn.

Pellicinis Auffassung deckt sich mit den Forschungen der Neuropsychologin Audrey van der Meer, die in ihren Arbeiten an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens, der NTNU in Trondheim, eine erhöhte Gehirntätigkeit beim Schreiben im Vergleich mit dem Tippen nachgewiesen hat.

Natürlich liesse sich auch argumentieren, ein Zurückgehen der Schreibschrift wäre kein Weltuntergang, aber das ändert nichts an Pellicinis Überzeugung: Es kommt auf die Form an und das, was sie freisetzt – nicht nur kognitiv, sondern vor allem auch in Bezug auf unsere Persönlichkeit.

„Die Handschrift kann verschiedene Aspekte der Persönlichkeit sehr viel deutlicher zeigen“, sagt er. „Manche Kinder schreiben aus Schüchternheit rückwärts, andere drücken mit grösserem Selbstbewusstsein stärker auf.“ Im Gegensatz zu Druckbuchstaben, führt er aus, regt die Schreibschrift zu mehr Spontanität und Individualismus an.

In einer Welt digitaler Kurzformen und damit einhergehend verschwindender Schwünge und Schleifen bleibt Pellicinis Aufruf klar: Entdeckt wieder den Reichtum handschriftlichen Ausdrucks! Nicht nur wegen seiner Auswirkungen auf das Denken, sondern wegen der Art, wie er unsere Persönlichkeit formt.

„Ja, es geht um das Gedächtnis“, sagt er, „aber ebenso um Eleganz, Gestaltung und Identität.“