Auf den Schweizer Alpengipfeln ist noch kein richtiger Schnee gefallen, aber schon wird es stiller in der Bergwelt. Das gemütliche Geläut der Kuhglocken verklingt langsam, denn die Herden machen sich auf den Weg hinunter ins Tal und in ihre Winterquartiere. Zu dieser Zeit kommen überall in den Alpentälern die Dorfbewohner zusammen, um ihre Kühe willkommen zu heissen und das Ende einer weiteren Transhumanz zu feiern, des jahrhundertealten Brauchs, den Viehbestand von den hochgelegenen Almen hinunter in die Täler und auf die tiefer gelegenen Weiden zu treiben, der diese Berge seit Ewigkeiten geprägt hat.
Wenn du heute in eine jede Berghütte in den Schweizer Alpen kommst, findest du an den Wänden höchstwahrscheinlich vergilbte Fotos aus dem vorigen Jahrhundert, auf denen genau diese jahreszeitliche Reise zu sehen ist: Stolze Bauern, Kühe, geschmückt mit farbenprächtigen Girlanden aus Sonnenblumen, weisse Schafe, auf entfernten Berghängen, die so wirken, als wäre im Sommer Schnee gefallen. Doch bei all dem handelt es sich nicht um eine malerische Tradition, die für die Touristen lebendig erhalten wird. Von den französischsprachigen Tälern des Wallis bis zu den Höhen Graubündens, auf denen noch Rätoromanisch gesprochen wird, ist die Wanderweidewirtschaft ein funktionierendes System, mit dem uraltes Wissen an moderne Bedürfnissen angepasst wird.
Je nach Region und Tier unterscheidet sich die jeweilige Choreographie. So bewegen sich Milchkühe im Allgemeinen zwischen den Höfen in den Tälern und den Almen der Hochalpen hin und her, wobei unterwegs bisweilen Zwischenstopps eingelegt werden, die so genannten Maiensäss. Den Herbst hindurch begehen dann Gemeinden wie zum Beispiel Charmey im Kanton Friburg, aus dem der weltberühmte Gruyère-Käse stammt, ihren Désalpe, den Abtrieb des Viehs. Die Kühe tragen dann die grössten Glocken der Schweiz und sind mit den letzten Blumen der Jahreszeit geschmückt. Neben dem Umzug der Kühe ist auf diesen Feiern oft auch das Schwingen zu erleben, das traditionelle Schweizer Ringen, sowie Jodel- und Alphornwettbewerbe und, nicht zu vergessen, zahlreiche Käseverkostungen.
Schafe sind dagegen die Spezialisten der Höhenlagen. In Kantonen wie Uri und Wallis erklimmen die Herden Höhen von über 3‘000 Metern, wohin sich auch die tapferste Kuh kaum je verirren wird. Die Schafhirten üben nach wie vor eine noch ältere, noch wildere Form der Transhumanz aus, indem sie mehrere Monate in herrlicher Abgeschiedenheit auf Berggipfeln verbringen, wo der nächste Nachbar höchstens einmal ein Steinbock ist oder, und das heutzutage immer öfter, ein Wolf.
Diese Mischung aus Hoch- und Niederalmen und von Schafen und Rindern machte einst das wirtschaftliche Rückgrat der Alpengemeinden aus. Auf den Ländereien der Täler wurde Getreide angebaut, während das Sommergras auf dem Weideland der Hochalmen zu Käse und Wolle gemacht wurde. Durch koordinierte Zusammenarbeit konnten selbst Landwirte, die nur einige wenige Tiere hielten, an dieser Hochlandwirtschaft teilhaben. Wenn die Zusammenarbeit jedoch zum Beispiel wegen Streitigkeiten über Weiderechte scheiterte, konnte das zu grossen Konflikten führen, wie zu Beginn des 14. Jahrhunderts zur Schlacht von Morgarten. Ein Zwist über Landnutzungsrechte zwischen dem Kanton Schwyz und dem Kloster Einsiedeln, das unter dem Schutz des Habsburger Reichs stand, eskalierte damals und führte zu Landraub, päpstlicher Exkommunikation, Plünderungen des Klosters und schliesslich zu einer offenen Feldschlacht zwischen Schweizer Pikenieren, mit Spiessen bewaffneten Infanteriesoldaten, und kaiserlichen Truppen.
Zum Glück sind die Gefahren, denen alpine Bauern heute ausgesetzt sind anders – allerdings nicht weniger komplex. Wölfe kehren zurück, der Klimawandel verändert die Weidemuster und immer weniger Menschen sind bereit, die Rolle von Hirten auf entfernt gelegenem Weideland zu übernehmen. Die Transhumanz jedoch gibt es weiterhin und sie blüht und verschwindet nicht. Moderne Milchprodukte von Alpenweiden erzielen Spitzenpreise und die modernen Hirten verbinden traditionelles Wissen mit GPS-Tracking und WhatsApp-Gruppen. Diese, von jahrhundertealter saisonaler Weidehaltung geprägten Arbeitsweidelandschaften, beherbergen einzigartige Ökosysteme, die zusammen mit der menschlichen Nutzung gewachsen sind.
Wenn in diesem Herbst die Rinder geschmückt mit den schönsten Glocken und gefolgt von stolzen Bauern und neugierigen Touristen am Abtrieb teilnehmen, geht es nicht nur darum, eine Tradition am Leben zu erhalten. Man zeigt vor allem, wie ein uralter Brauch an moderne Anforderungen anpasst werden kann und wie er gleichzeitig Berggemeinden in der Schweiz, in Österreich, Frankreich und Italien am Leben erhält, denn so werden charakteristische lokale Lebensmittelherstellung und praktisches Wissen, das aus der engen Zusammenarbeit mit Tieren und Alpen gewachsen ist, bewahrt. In einer Zeit, in der alle Welt von Innovationen wie besessen scheint, bleiben die klügsten Lösungen vielleicht genau die, die wir schon seit Ewigkeiten angewendet haben.