Welche ist die berühmteste Schriftart aller Zeiten? Wahrscheinlich würde man Times New Roman oder Arial allein schon wegen der Tatsache dafür halten, dass die beiden schon seit den 1980ern die Standardschriften für Desktop-Publishing sind. Oder Verdana, die überall im Internet vertreten ist, vielleicht denkt man auch an die allseits beliebte und gleichzeitig so verhasste Comic Sans. In der Welt des Designs jedoch hat man schon immer auf Helvetica gesetzt.
Das versteht man sofort, wenn man sich die folgende Liste von Logos ansieht, in denen Helvetica verwendet wird: 3M, AmericanAirlines, BASF, BMW, Epson, Hitachi, Jeep, Lufthansa, Microsoft, Motorola, NBA, Nestlé, Panasonic, Suzuki, New York City Transit Authority (die New Yorker U-Bahn), The North Face, Toyota und WhatsApp. Das sind einige der berühmtesten Marken der Welt, und die Liste lässt sich beliebig weiterführen. Helvetica ist darüber hinaus bis heute die einzige Schriftart, über die ein ganzer Film gedreht wurde: Gary Hustwits Dokumentarfilm aus dem Jahr 2007, der ihr 50-jähriges Jubiläum feiert. Tatsächlich ist die Helvetica vermutlich die einzige Schriftart, deren Jahrestag überhaupt je gefeiert wurde.
Was steckt hinter diesem Erfolg? Die Klarheit und gute Lesbarkeit der Helvetica? Die präzise Einheitlichkeit der horizontalen und vertikalen Striche? Die engen Abstände, die hohe X-Höhe und der ausgewogene negative Raum? Alles stimmt, aber natürlich ist es die Summe aller Teile, die das gewisse Etwas zusammenbringt. Na ja, vielleicht gibt es auch noch irgendwas in der Mitte. Genau! Und dieses Etwas ist Neutralität.
Neutralität ist das markanteste Merkmal der Helvetica. Entworfen wurde sie von dem Schweizer Schriftdesigner Max Miedinger und wurde dann im Jahr 1957 von der Haas Type Foundry vorgestellt – sie wurde geschaffen, um an sich nichts Bestimmtes auszudrücken. Darum vermeidet sie Ornamente. Ergreift keine Partei. Sie ist so unpersönlich wie ein weisses T-Shirt oder ein beiger Anzug. Allein deswegen wurde die Helvetica von ihren Kritikern schon immer als fade und langweilig bezeichnet. Doch genau darum geht es!
Es ist ihre Langweiligkeit, die es der Helvetica – anders als, sagen wir, der Times New Roman (viel zu neumodisch) oder der Comic Sans (an der kann man fast alles bemängeln) – gestattet, sich nahtlos in alle möglichen Kontexte einzufügen. Genau aus diesem Grund wurde sie schliesslich zum Kommunikationsmittel für alles, von Markennamen über Strassenschilder und Handbücher von Behörden bis hin zu Wegweisern der U-Bahn und zur Werbung. Sie ist überall vertreten und schreit ihre Schweizer Neutralität von allen Dächern.
Ursprünglich begann sie als „Neue Haas Grotesk”, doch als Linotype sie 1960 lizensierte, taufte man sie in Helvetica um – nach dem lateinischen Namen der Schweiz: Helvetia. Auf diese Weise unterstrich man ihre Schweizer Herkunft. Das geschah zu einer Zeit, als alle Welt auf die Vorreiterrolle der Schweiz im Bereich des Designs blickte. Die 1950er und 1960er Jahre waren die Blütezeit des internationalen typografischen Stils – besser bekannt als Schweizer Stil –, es war die Zeit, als Minimalismus regierte und Rastersysteme die Welt der Kommunikation eroberten. Gleichzeitig war dies auch die Nachkriegszeit des Kalten Kriegs, in der Stabilität, Ausgewogenheit und eben Neutralität nicht nur im Bereich des Designs als anstrebenswerte Eigenschaften galten.
Doch wenn wir über 60 Jahre später auf diese Epoche zurückschauen, wird uns auch deutlich, dass die Helvetia am Ende des Tages doch etwas aussagte. Mit ihrem so Schweizerischen Namen und ihrer massiven weltweiten Präsenz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat diese Schriftart doch viele verschiedene Gedankenverknüpfungen stimuliert. De facto wurde sie zur Stimme der amerikanischen Wirtschaft, zum Zeichen des Weltraumzeitalters und zur visuellen Darstellung der Moderne. Sie war so neutral, dass sie unverwechselbar wurde, so langweilig, dass sie Emotionen entfachte.
Das führte allerdings dazu, dass einige Marken sich anderswo nach neuen Schriftarten umsahen – selbst eingesessene Schweizer Marken wie wir hier bei Prodir. Schon vor Jahren haben wir uns für eine andere zukunftsweisende Schrift mit Schweizer Wurzeln entschieden: Avenir. Doch als echtes Schweizer Original werden wir immer eine Schwäche für diese langweilige Helvetica haben.
Immerhin bietet in einer Welt voller lauter Stimmen und polarisierender Meinungen eine Schriftart, die sich zu schreien weigert, etwas Beruhigendes – selbst, wenn sie alles sagt und sich zu jedem äussert.