Wie die Alpen schmecken? Wir meinen natürlich nicht die Felsen und den Schnee, wir sprechen über die Speisen und Gerichte, die das Ergebnis einer lang gewachsenen und sich ständig weiter entwickelnden kulinarischen, alpinen Tradition sind. Die Schweizer Ethnologin Isabelle Raboud-Schüle gab in der RTS-Radiosendung Tribu unlängst die Antwort auf diese Frage: Die Alpen schmecken alles andere als süss.
In einem unlängst erschienen Buch über das Gefühl, den Geschmack, die Gerüche, die Geräusche und Sehenswürdigkeiten von Europas gewaltigstem Gebirge, warnt Raboud-Schüle in dem von ihr verfassten Kapitel „Quel serait le goût des alpes?” (Wie würden die Alpen schmecken?) davor, dass jede darauf bezogene Aussage über die Alpen als ein geschlossenes Ganzes immer nur eine unzulässige Vereinfachung wäre. Die Alpen befinden sich in acht Ländern, umfassen mehrere Sprachen und eine Unzahl verschiedener Dialekte und weit über hundert seit langer Zeit besiedelte Täler. Einige Gegenden, die zwar dieselbe Flora und Fauna beherbergen, sind mit grosser Wahrscheinlichkeit durch verschiedene Sprachen getrennt. Andere, obwohl sie eine gemeinsame Sprache verbindet, bieten eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitsweisen in der Landwirtschaft, der Viehzucht und Lebensmittelherstellung.
Saure Felsen
Würden wir jedoch verallgemeinern, könnte man sagen, einer der besten Kandidaten für „den“ Geschmack der Alpen ist sauer. Nicht sauer wie Zitrusfrüchte, sauer durch die Vergärung von Milchsäure. Das ist eine der ältesten Methoden der Menschheit zur Konservierung von Lebensmitteln, um Gemüse und Milch zu lagern oder Brot zu backen. Sie reicht bis weit in die Zeit zurück, bevor man Kühlschränke, Tiefkühlkost oder Supermärkte erfand.
Wenn man z.B. an Kohl denkt, denkt man heute hauptsächlich an das Kanton Bern. Einst wurde er jedoch überall in den Alpen angebaut und durch Milchsäuregärung und unter ausschliesslicher Zugabe von Salz und Wasser lokal konserviert oder eigentlich besser: transformiert.
Die Vergärung von Milchsäure wurde auch für die Käseherstellung gebraucht. Während in modernen Käsereien stabile, industriell erzeugte Säuren verwendet werden, liess man in der Vergangenheit die Molke – das ist die Flüssigkeit, die sich vom dickflüssigeren Milchbruch trennt, der für die Käseherstellung genommen wird – vergären, wodurch eine äusserst saure Flüssigkeit entstand, mit der man einen Käse schuf, der in den französischsprachigen Alpen sérac heisst, der aber vermutlich eher unter seinem italienischen Namen Ricotta bekannt ist.
Brot aus Roggen, einem Getreide, das grössere Höhen und niedrigere Temperaturen als Weizen verträgt, wurde traditionell ein- oder zweimal jährlich in grossen Mengen gebacken. Roggenbrot braucht zum Aufgehen mehr Zeit als Weizenbrote, durch das langsame Aufgehen aber bekommt es einen sehr charakteristischen scharfen und sauren Geschmack. Heute wird der Säuregehalt in der industriellen Herstellung verringert, aber der wahre, traditionelle Geschmack der Alpen hat einen unverkennbar säuerlichen Biss.
Der Segen des Bitteren
Ein anderer markanter Geschmack der Alpen ist Bitterkeit, er zeigt sich vor allem in der Vielzahl der bitteren, alkoholischen Produkte aus den verschiedenen Alpenregionen. Der Geschmack rührt von der alpinen Flora her, die in ihrer kurzen Wachstumszeit einen kräftigen, bitteren Geschmack entwickelt. Diese bitteren Pflanzen hat man schon immer für medizinische Zwecke verwendet und das aus gutem Grund, denn Bitterkeit regt die Magensäfte an und hilft so bei der Verdauung. In jüngster Zeit hat der Alpentourismus dazu beigetragen die Verbindung zwischen den Bergen und ihrer Flora zu festigen, natürlich trug er auch zur Vermarktung von bitteren Kräuterschnäpsen bei, wie Appenzeller Alpenbitter, auf dessen Etikett das berühmte Berggasthaus Aescher-Wildkirchli zu sehen ist.
Aber nicht nur Alkoholika, auch Ricola Kräuterdrops sind eins der bekanntesten Schweizer Exportgüter. Nach Angaben des Unternehmens werden sie mit 13 verschiedenen Kräutern hergestellt, darunter Pfefferminz, Salbei, Schafgarbe und Andorn, dessen lateinischer Name marrubium ist, hergeleitet aus dem Hebräischen für „sehr bitter“.
Süsse vor dem Zucker
Und wie stehts mit Süssem? Ist denn nicht die Schweiz besonders für ihre Schokolade berühmt? Stimmt, aber in gewisser Weise ist Bitteres auch ein Teil dieser Geschichte. Der Rohstoff für die Herstellung, Kakao, ist ausserordentlich bitter, und das wissen alle, die Lindts dunkle Excellence Schokoladen mit 85%, 90% oder 100% probiert haben – letztere zieht einem die Mundwinkel zusammen, so bitter ist sie. Dunkle Gourmetschokoladen wie diese sind ein Schritt in die entgegensetzte Richtung von Lindts Original, der Milchschokolade, deren Herstellung damals wie heute nicht allein von der Verfügbarkeit von Milch abhängt, sondern auch von Zucker. In Europa wurde Zucker erst mit Beginn des industriellen Zuckerrübenanbaus im frühen 19. Jahrhundert preiswert und allgemein erhältlich. Davor war der importierte Zucker aus amerikanischem Zuckerrohr eine extravagante Köstlichkeit. Doch lange bevor die Schweizer damit begannen, die mittelamerikanische, bittere Kakaofrucht in köstliche, süsse Milchschokolade zu verwandeln, schufen alpine Bauern schon Süsse mit anderen, wenngleich beschränkteren Mitteln: Der bis auf 10% seines ursprünglichen Volumens konzentrierte Fruchtsaft von Äpfeln und Birnen, erklärt Raboud-Schüle in ihrem Text, war ganzjährig eine dickflüssige, harzige Quelle für Süsses. Natürlich auch Trauben, denn schon seit der Antike wird in der Schweiz Wein angebaut und all jene Trauben, die nicht für das Keltern von Wein bestimmt waren, wurden als Rosinen in der Sonne getrocknet oder in den Scheunen aufgehängt, um dort bis in die Weihnachtszeit hinein langsam zu trocknen, damit diese besondere Leckerei in Crêpes, Kuchen oder selbst in crêpes au sang verwendet werden konnten, das sind Kuchen, die mit dem Blut einer Kuh oder eines Schafs gemacht wurden, die zu Beginn der Winterzeit geschlachtet wurden.