Finnland hört nicht auf, die Welt des 21. Jahrhunderts immer wieder in Erstaunen zu versetzen. In jedem Jahr steht das Land an der Spitze des World Happiness Report. In der PISA-Rangliste der besten Bildungsleistung landet es regelmässig unter den ersten zehn Ländern. Und womit kommen sie jetzt? Finnland hat die Schreibschrift abgeschafft.
Oder doch nicht? Vor ein paar Jahren konnte man Berichte darüber lesen, Finnland habe beschlossen, an seinen Schulen nicht mehr länger Schreibschrift zu unterrichten. Bisweilen wurden diese Artikel von Bildern begleitet, auf denen man Kinder sehen konnte, die wie hypnotisiert auf den bläulichen Schimmer eines Computerbildschirms schauten. Als Erklärung bot man in diesen Artikeln an, die Welt orientiere sich zunehmend an Computern, darum seien „Tastatur-Fähigkeiten“ wertvoller als „Schreibklassen“.
Auf diese Nachrichten hin setzte international eine Welle entschlossener und leidenschaftlicher Verteidigungen der Schreibschrift und der Handschrift im Allgemeinen ein, zumal die finnische Entscheidung fast unmittelbar auf eine ähnliche Verfügung in den Vereinigten Staaten folgte, die Schreibschrift aus den gemeinsamen grundlegenden Bildungsnormen jeder Schülerin und jedes Schülers bis zum 12. Lebensjahr (Common Core State Standards) zu entfernen. Man fragte sich, ob dieser beunruhigende Trend das Ende der Handschrift an sich einläutete.
Natürlich wären wir die Ersten, die warnen würden, der Tod der Schreibschrift wäre eine äusserst schlimme Angelegenheit. Handschrift ist die grundlegendste Technik, die dazu dient, dass unsere Wörter durch Raum und Zeit reisen, und uns Freude aus den entlegensten Orten bringen. Ihre Anwendung ist uns dabei behilflich, Chaos in Ordnung zu verwandeln, und in einer Welt voller Ablenkungen hilft die Handschrift dabei, uns zu konzentrieren. Ganz allgemein sind handgeschriebene Notizen immer besser als getippte, denn sie unterstützen unsere Gedächtnisleistung, und im Geschäftsleben machen von Hand geschriebene Memos grossen Eindruck bei Mitarbeitern und Kunden.
Tatsächlich aber beschloss Finnland, die Schreibschrift abzuschaffen, nicht allerdings die Handschrift an sich und es ist wichtig, die beiden nicht miteinander zu verwechseln (wie es unglücklicherweise in vielen Berichten geschah). Die Finnen haben nicht damit aufgehört, ihre Kinder weiterhin darin zu unterrichten, das Alphabet, Wörter, Sätze und ganze Texte zu schreiben. Was sie abgeschafft haben, ist die Unterrichtung einer zweiten, speziellen, verbundenen Schrift.
Schreibarten kommen und gehen. In Europa haben wir in den letzten zweitausend Jahren viele verschiedene Schriftarten für unsere auf dem Lateinischen basierenden Sprachen verwendet, darunter die mittelalterliche merowingische Schrift, die karolingische Minuskel von Karl dem Grossen, die gotische Schrift und die Kursivschrift der Renaissancezeit. In den letzten einhundertfünfzig Jahren wurde in den USA die verschnörkelte Spencer-Schrift, die wir aus dem Coca-Cola Logo kennen, durch die einfachere Palmer Methode ersetzt, die Schreibern vorgeblich den Schnelligkeitswettbewerb mit einer Schreibmaschine erleichtern sollte. Es folgten die Zaner-Bloser-Schrift und die D’Nealian Methode. Jede neue Schrift- und Schreibart beanspruchte für sich, das notwendige Zusammenspiel von Schreibgeschwindigkeit und Lesbarkeit zu verbessern.
Als die Finnen die Totenglocke für den Schreibschriftunterricht läuteten, kämpften sie mit ihrem sehr eigenen Problem konkurrierender Schriftarten. Die allgemeine Schulpflicht beginnt in Finnland mit sieben Jahren, und normalerweise lernen die Kinder in ihrem ersten Jahr die Blockschrift und im zweiten Jahr die verbundene Schreibschrift. Man geht davon aus, dass die Kinder nach diesem Zeitraum beide Schriftarten ausreichend beherrschen, und der Sprachunterricht beginnt sich auf andere Aspekte des Schreibens zu konzentrieren, wie Struktur und Argumentation.
Allerdings erfordert der Akt des Schreibens ganz allgemein ein grosses Mass an Feinmotorik, und den meisten Kindern reicht ein Jahr nicht aus, die Mechanik des verbundenen Schreibens voll und vor allem schnell genug zu beherrschen, wie Minna Harmanen vom Finnischen nationalen Bildungsrat (FNBE) erklärte. Lehrer konnten beobachten, dass Kinder in den höheren Klassen ihre Schreibschrift zugunsten der Blockschrift ablegten, denn sie war ihnen, wie es bei Kindern in vielen anderen Ländern ebenfalls der Fall ist, zu umständlich und vor allem zu langsam. Und was bringt die Schreibschrift, wenn man sie nicht schnell schreiben kann?
Denn natürlich geht es hier um Geschwindigkeit, und eine verbundene Handschrift ist eigentlich das natürliche Ergebnis einer flüssigen Handschrift. Das bedeutet: Jeder, der gut Druckschrift schreibt und sich darum bemüht, schneller zu schreiben, wird seine Buchstaben irgendwann automatisch verbinden. Wenn du das nicht glaubst, schreib einfach deine eigene Unterschrift, bei der du bestimmt längst festgestellt hast, dass die Geschwindigkeit gegenüber der Lesbarkeit den Sieg davongetragen hat.
Wenn die Schreibschrift aber das Ergebnis flüssigen Schreibens ist, könnte man argumentieren, formaler Schreibschriftunterricht bedeutet, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Es bedeutet, dass Kindern das natürliche Ergebnis flüssigen Schreibens beigebracht wird, lange bevor sie tatsächlich flüssig schreiben können. Es ist so ähnlich, als würde man Anfängern, die die deutsche Sprache lernen, als erstes zusammengezogene Kurzformen wie aufn, mitm, nen oder gehn beibringen, denn diese Formen der korrekten auf den, mit dem, einen oder gehen sind im Prinzip wie eine Art verbale Schreibschrift, eben ihre gesprochene Version. Da derartige Kürzel aber inzwischen vor allem auch dank ihres Gebrauches in den sozialen Medien zum informellen Schreibstil geworden sind, sollten sie Lernern des Deutschen vielleicht ebenfalls beigebracht werden, damit sie sie erkennen und verstehen können. Und dasselbe gilt für die Schreibschrift, auch sie sollte unterrichtet werden, damit sie gelesen werden kann. Was jedoch das Tun betrifft, kann auf die Unterrichtung getrost verzichtet werden, denn Lernende werden diese Form verbundener Schrift irgendwann sowieso spontan verwenden, wenn sie flüssig und schnell genug geworden sind.
Und genau darum scheint es den Finnen zu gehen, wenn es um die Schrift geht. 2016 hat der Finnische nationale Bildungsrat (FNBE) das Alku Handwriting System eingeführt, eine Methode, mit der Blockbuchstaben flüssig und verbunden geschrieben werden können. Wie bei allen formalisierten Schreibarten und -methoden seit dem Altertum, ist es immer das System, das bestimmt, wann der Stift nach oben, nach unten oder schräg geführt werden muss und wie und wo man die einzelnen Buchstaben miteinander verbinden kann. Es ist nicht die Schreibart deiner Grossmutter, aber es ermöglicht flüssiges, ununterbrochenes Schreiben – im Grunde ersetzt es zwei unterschiedliche Schreibarten durch eine.
Sollten auch andere nationale Bildungssysteme ebenso wie Finnland oder die Vereinigten Staaten handeln und die verbundene Schreibschrift ablösen, d.h. eine zweite verbundene Schriftart neben der Blockschrift zu lernen, kann es sehr wohl sein, dass die Unterrichtung der verbundenen Schreibschrift vom Aussterben bedroht ist. Aber solange Handschrift unterrichtet wird und Kinder lernen, flüssige Schreiber zu werden, wird die Schreibschrift nicht verschwinden. Bis dahin ist es, sagen wir, Ironie des Schicksals, dass der Computer, weit davon entfernt, die verbundene Schreibschrift auszulöschen, ihr bestes Aushängeschild bleiben wird.