Düfte, die flüstern

Céline Ellena spricht über den Einfluss der Düfte, die in unseren Erinnerungen und auf unserer Haut verweilen. Und darüber, warum die besten Parfums vielleicht diejenigen sind, die uns nur zuflüstern und genau wissen, wann sie sich wieder zurückziehen sollten. Sie sprach mit uns von ihrem Zuhause in Spéracèdes, Frankreich, aus – nur einen Steinwurf von Grasse entfernt, der Welthauptstadt des Parfums.

OPEN: Wie würden Sie Ihre Tätigkeit beschreiben?
CÉLINE ELLENA: Ich komponiere Parfums. Das heisst, ich kreiere Düfte für Marken, ähnlich wie ein Romancier Romane schreibt oder ein Musiker Musik komponiert. Aber ich erzähle Geschichten mit Düften. Und das bedeutet, Emotionen zu vermitteln. Das, was uns berührt – in unseren Herzen, in unserem Blut, in unserem Bauch. Eine Geschichte anhand eines Duftes zu erzählen, ist der direkteste Weg, unsere Erinnerungen zu berühren und unsere Gefühle hervorzulocken, egal wie tief sie vergraben sind. Wie ein Maler seine Farben oder ein Musiker seine Noten verwende ich dazu Rohzutaten. Und indem ich diese Zutaten mische, erschaffe ich einen Duft, der berührt und eine Geschichte erzählt.

Arbeiten Sie heute für ein bestimmtes Unternehmen?
20 Jahre lang war ich, wie die meisten Parfumeure, in grossen Unternehmen beschäftigt, von denen Sie noch nie etwas gehört haben, die Düfte für bekannte Marken wie Unilever oder L’Oréal herstellen. Ich war von einem grossen Team von Marketing- und Vertriebsmitarbeitern und Assistenten umgeben und bin dabei fast nie den eigentlichen Kunden begegnet. Das hat mir sehr viel Freude gemacht. Und in einem solchen industriellen Umfeld entstehen die meisten der grossen Parfums. Aber jetzt bin ich seit zehn Jahren als unabhängige Parfumeurin tätig. Ich habe eine kleine Manufaktur und mache alles selbst: Ich recherchiere intensiv, entwickle die Rezepturen, dosiere die Ingredienzen und verschicke die Proben an die Kunden – die Markenunternehmen – die sich im nahe gelegenen Grasse, in Paris, in Korea oder in China befinden.

Das klingt nach einem behutsamen Prozess.
Ein typisches Projekt kann zwischen einem und drei Jahren in Anspruch nehmen – und die Covid-Beschränkungen, insbesondere in Asien, waren da nicht gerade hilfreich. Ich betreue beispielsweise ein Projekt, das ich im März 2020 eine Woche vor dem ersten Lockdown begonnen habe, und gerade eben erst hat mich dieser Kunde angerufen, um mir zu bestätigen, dass das Parfum endlich auf den Markt kommen wird.

Warum spielen Düfte eine so grosse Rolle beim Wecken von Erinnerungen?
Ich bin kein Hirnforscher, aber die Nase ist unser primitivster Sinn, der eine direkte Verbindung zum Gehirn herstellt. Die anderen Sinne durchlaufen grössere Kreisläufe und überwinden dabei Hindernisse. Aber die Nase ist direkt mit den primitivsten Teilen unseres Gehirns verbunden. Düfte werden nicht intellektualisiert, sie wirken unmittelbar. Bei Profis wie mir ist das jedoch anders: Wenn ich etwas rieche, wird mein gesamtes Gehirn aktiviert, da ich mit Verbindungen, Imaginationskraft und Projektion arbeite. Ich kann mir einen Duft vorstellen, ohne ihn riechen zu müssen. Ihnen gelingt das vielleicht bei vertrauten Gerüchen wie dem von Erdbeeren, aber das ist sehr begrenzt.

Es ist schon komisch: Wenn Sie Erdbeere sagen, denke ich an den synthetischen Erdbeerduft in Süssigkeiten oder Erdbeersirup. Dasselbe gilt für Trauben – es ist der künstliche Traubengeruch in amerikanischer Traubenlimonade.
Das ist ein interessantes Beispiel, denn diesen Weintraubengeruch, den Sie meinen, gibt es in Frankreich überhaupt nicht. Ich kenne ihn, weil ich ein Parfum auf seiner Grundlage kreiert habe, und ich habe als Kind in Amerika gelebt. Aber für einen Franzosen wäre dieser Geruch bedeutungslos. Weintrauben, ja. Aber die Art und Weise, wie die „Traube“ in Amerika interpretiert wird, ist völlig anders als in Frankreich, Russland oder Asien.

Das ist eine dieser starken Kindheitserinnerungen.
Ja. Wenn in Frankreich jemand mit mir über die Gerüche seiner Kindheit spricht, kann ich sagen, wo und wie er aufgewachsen ist. Dann weiss ich etwas über sein Leben und seinen Gesundheitszustand. Das ist kulturell beeinflusst.

Apropos, Sie sind von Paris zurück in das Dorf gezogen, in dem Sie aufgewachsen sind. Wie hat sich dieser Umzug auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Ich habe meine frühe Kindheit und meine Ferien hier in Spéracèdes verbracht, aber ich habe auch an vielen anderen Orten gelebt. Spéracèdes ist nicht der Ort, an dem ich gross geworden bin. Als ich hierher zurückkam, um hier zu leben, war es ein bisschen so wie mit einem Parfum, an das man sich nur vage erinnert, zu dem man aber keine Affinität mehr hat. Ich musste lernen, hier zu leben. Inzwischen könnte ich aber nirgendwo anders mehr arbeiten. Hier in Spéracèdes gibt es Frieden, Ruhe und Licht. Und ich bin in unmittelbarer Nähe zu Grasse.

Die historische Hauptstadt des Parfums.
Das macht es wirklich einfacher. Ich wohne in der Nähe der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, und kann mein Labor zu Fuss erreichen.

Wie viele verschiedene Inhaltsstoffe fliessen in einen neuen Duft ein, den Sie kreieren?
Das kann man auf verschiedene Weise angehen. Mein Vater, der Parfumeur Jean-Claude Ellena, hat von einem Meister der früheren Generation, Edmond Roudnitska, gelernt, dass man einen Duft mit wenigen Inhaltsstoffen herstellen sollte. Man muss seine Zutaten sorgfältig auswählen und so verarbeiten, dass jede Zutat das Beste von sich entfalten kann. Es gibt ein Prinzip, das man rapport- d’odeur nennt. Das beschreibt die Art und Weise, wie jeder Inhaltsstoff quasi einen Pas de deux macht, wie er sich also mit einem anderen Duft vermischt, ihn abstösst, anzieht, vervollständigt oder überlagert. Das ist die Herausforderung unseres Handwerks. Deshalb bedarf es jahrelanger Forschung. Und dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass jede Zutat wichtig ist, und wenn man eine weglässt, fällt das Ganze in sich zusammen. Ich beschreibe das mit einem Wort, das aus der Architektur stammt: tensegrity – es ist das Spannungsverhältnis, das eine Struktur zusammenhält.

Wenn man etwas herausnehmen kann und die Struktur nicht zusammenbricht, war es von Anfang an unnötig, oder?
Ganz genau. Und Sie müssen wieder von vorne beginnen. Nichts extra und nichts zu viel. Jedes Element sollte dazu da sein, die anderen zu unterstützen.

Welche Art von Düften bevorzugen Sie bei Ihren Parfums?
Ich habe meine Lieblingsweine – ich mag den Burgunder lieber als den Bordeaux. Aber Parfums sind der einzige Bereich, in dem ich keine Vorlieben haben darf. Ich arbeite für meine Kunden, und wenn man eine Vorliebe hat, schränkt man sich selbst ein. Am Ende wiederholt man immer wieder die gleichen Dinge. Ich bleibe neutral, offen, objektiv. Ich ziehe es vor, ein Schmetterling zu bleiben.

Wie lange sollte ein Parfum halten?
Die Dauer eines Duftes hat zwei Aspekte: Sillage und Persistenz.

Erzählen Sie mehr darüber.
Die Sillage ist wie eine zarte Duftspur, die dir folgt, wo immer du hingehst. Das entlockt den Menschen ein „Wow!“ (Sie macht jemanden nach, der stehen bleibt und sich umdreht.)

Das wäre ein guter Fernsehspot!
Das ist es, worauf es ankommt. Oder denken Sie an ein Boot und die Spur, die es in seinem Kielwasser hinterlässt.

Was ist die ideale Sillage?
Es gibt keine ideale Sillage, aber leider – das ist mein Eindruck – wollen viele Marken heute eine zu „grosse“ Sillage. Dann soll die Spur im Kielwasser nicht von einem Boot, sondern von einem mehrstöckigen Kreuzfahrtschiff stammen.

Das ist kein schönes Bild für ein Parfum!
Als ich die Hausparfums für Hermés entwickelte, sagte ich denen immer, ich wolle Parfums kreieren, die flüstern.

Die flüstern?
Ja, leise Parfums. Als ich das sagte, wurden ihre Augen ganz gross. „Ein Parfum muss duften!“ Aber ich finde, ein Parfum sollte sich erst zu erkennen geben, wenn man sich einer Person nähert. Es ist intim. Seit den Covid-Beschränkungen haben die Menschen Düfte wiederentdeckt und schätzen gelernt, die leise sind, die intim sind, die beruhigen, die auch häuslich sind, die von deinem Partner kommen, der vielleicht nicht weiss, wie man sich gut parfumiert, sondern nur ein klein wenig Duft aufträgt.

Und die andere Eigenschaft – Persistenz?
Persistenz bezeichnet die Zeit, die der Duft auf der Haut verweilt. Heute sind Parfums in Mode, die 24, 48 oder sogar 72 Stunden auf der Haut bleiben. Ich bevorzuge dagegen Parfums, die sich zurückziehen, die Platz für die Haut lassen, für andere Dinge. Wenn man weiterhin den Duft des Parfums haben möchte, trägt man es einfach erneut auf. Ich mag Düfte, die die Sinne wecken, die Emotionen wecken, die sich aber auch wieder vergessen lassen. Denn am Ende ist es die Persönlichkeit, die wirklich zählt.

Céline, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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Ellena Studio by Céline Ellena auf YouTube:
Instagram: ellenanezen

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Kyle Dugan lebt und arbeitet als Autor und Übersetzer in Varese, Italien.

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