Im Grunde genommen sind wir Erinnerung.

Seit die Astronomen vor 400 Jahren anhand der Position von Mond, Sonne und Sternen die moderne Zeitmessung entwickelt haben, sind wir besessen von der Fähigkeit, dem Augenblick einen Namen zu geben. Die Zeit ist ein zuverlässiges und beständiges Instrument, das es uns ermöglicht, unser Alltagsleben zu organisieren, uns zu treffen und zu messen, wie schnell sich Dinge bewegen. Dieser universellen Wahrheit können wir wohl alle zustimmen. Doch der Schein kann trügen.

In Wirklichkeit vergeht die Zeit an verschiedenen Orten unterschiedlich schnell. Man mag es kaum glauben, aber unzählige Experimente mit Präzisionszeitmessern haben gezeigt, dass die Zeit in den Bergen schneller vergeht als auf Meereshöhe – und für Menschen in Bewegung langsamer im Vergleich zu denen, die stillstehen. 

Auch nehmen wir das Vergehen von Zeit als in eine Richtung erfolgend wahr. Unser Leben beschreiben wir wie einen Erzählbogen, der einem eindeutigen Pfad in eine ungeschriebene Zukunft folgt, der von einer Vergangenheit bestimmt wird, die bereits stattgefunden hat. Uns wird beigebracht, den Dingen, die bereits geschehen sind, und den Dingen, die eines Tages geschehen könnten, große Aufmerksamkeit zu schenken. Wir planen für morgen, schwelgen in der Vergangenheit, verlieren uns in Nostalgie und sind besorgt oder aufgeregt, wenn es um die Zukunft geht. Aber auch hier gilt: Ein Physiker würde die Dinge anders sehen.

Physiker würden argumentieren, dass die Zeit in Wirklichkeit ein soziales Konstrukt ist und sich keineswegs linear darstellt. In seinem Bestseller Die Ordnung der Zeit weist der italienische Physiker Carlo Rovelli darauf hin, dass es aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich kaum einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die eine geordneter und sicherer ist als die andere. Und diese Wahrnehmung würde nicht einmal existieren, wenn wir kein Gedächtnis hätten.

Ohne Erinnerung gäbe es weder Vergangenheit noch Zukunft. Wir würden einfach nur sein. Und wir würden das Leben wie die meisten anderen Spezies auf diesem Planeten erleben. Einige Philosophen würden sicher sagen, dass wir einen Preis für die Denkvorgänge zahlen, die uns unser Gedächtnis liefert, weil es uns daran hindert zu erkennen, dass die einzig wahre Realität in der Gegenwart liegt.

Das ist wahr. Manchmal fällt es uns schwer, zufrieden zu sein, solange wir nicht die Gewissheit haben, dass bestimmte gute Ereignisse vor uns liegen. Und manchmal vergessen wir, eine Party zu genießen, weil wir jemanden vermissen, der nicht mehr unter uns weilt.

Vielleicht wäre es empfehlenswert, nicht zu viel über die Vergangenheit nachzudenken oder uns zu viele Gedanken über die Richtung zu machen, in die wir uns bewegen. Denn was nützt es, sich immer wieder auf die Zukunft auszurichten, wenn man dort gar nicht ankommt, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, an eine andere, neue Version der Zukunft zu denken?

Wir haben es alle schon tausendmal gehört: Lebe im Hier und Jetzt. Wir sollten das Hier und Jetzt schätzen, denn das ist alles, was wirklich existiert. Die Vergangenheit und die Zukunft sind abstrakte, imaginäre Konstrukte, die nur in der Erinnerung und in der Vorstellung existieren.

Aber auch wenn uns diese Sichtweise dazu inspirieren kann, uns die Freude am Jetzt zu eigen zu  machen, dürfen wir nicht vergessen, dass diese aufdringlichen Gedanken der Reue oder Besorgnis auch etwas ganz Besonderes darstellen. Wir machen uns Sorgen und wir vermissen etwas. Aber wir können uns auch begeistern und wir erzählen uns alte Geschichten, die andere zum Lachen bringen. Vor allem ist unsere einzigartige Art, die Vergangenheit und die Zukunft wahrzunehmen, die wichtigste Eigenschaft, die uns von anderen Tieren unterscheidet.

Diese menschliche Wahrnehmung der Zeit mag nach den Regeln der Physik unsinnig sein und sie mag uns manchmal große Schmerzen bereiten. Aber sie ermöglicht uns auch eine Wertschätzung für die Dinge, die in unserem Leben geschehen sind und uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Sie gibt unserer Existenz einen Sinn. Sie ist es, die das Leben im Grunde genommen schön macht. Und letztendlich ist sie doch das, was uns als Menschen ausmacht.

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Carlo Rovelli, Die Ordnung der Zeit (Italienisch: L’ordine del tempo), 2017

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Natalie Rhodes ist Schriftstellerin und lebt in Fontainebleau, Frankreich.

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