Ich leg mich jetzt mal kurz ab

Der modernen Gesellschaft könnten zunehmend massive Schlafdefizite drohen. Aber sind acht Stunden pro Nacht wirklich der beste Weg, dieses Defizit abzubauen?

Denis Moniotte ist Mitbegründer eines in Brüssel ansässigen FinTech-Start-ups für Banken in Entwicklungsländern. Sein zehnköpfiges Team agiert komplett dezentral und so arbeitet er von zuhause aus. Jeden Tag schiebt Dennis zwischen seinen Zoom-Meetings und E-Mails, der Essenszubereitung für die Kinder, wenn sie von der Schule nach Hause kommen, und seinem täglichen Joggingprogramm ein Nickerchen ein. Oder vielleicht auch zwei.

„Ich habe schon während des Studiums damit begonnen, wenn ich für Prüfungen gelernt habe“, sagt Denis. „Zunächst allein, dann beim gemeinsamen Lernen mit Freunden.“ Er war erstaunt, wie intensiv seine Freunde lernten, hatte selbst aber oft das Gefühl, nicht mithalten zu können. In solchen Momenten schloss er seine Bücher, legte sich in eine Ecke und schlief. Heute, 20 Jahre später, macht er solche Naps – oder genauer gesagt Mikro-Naps – wann und wo immer er sie braucht: in seinem Büro zuhause, in einem überfüllten Konferenzraum, am Flughafen. Und er betrachtet sich selbst als eine Art Napping-Experten.

„Wenn du unbedingt einschlafen willst“, sagt er, „wird genau das wahrscheinlich nicht passieren. Mein Ziel ist es einfach, mich auszuruhen, und ich schlafe fast immer ein.“ Sein täglicher Mikro-Nap kann zehn bis zwanzig Minuten dauern. „Ich wache oft mit einem Ruck auf und denke, ich hätte überhaupt nicht geschlafen, aber tatsächlich sind doch 13 oder 14 Minuten vergangen. Dann springt man am besten direkt auf und lässt sich nicht noch einmal in einen tieferen Schlaf zurückfallen.“ So verhindert man die so genannte Schlaftrunkenheit, eine Trägheit, die einen nach einem längeren Nickerchen überkommt. Denis stellt sich aber nie einen Wecker, es sei denn, es steht eine Besprechung unmittelbar bevor. In diesem Fall legt er sich sogar zehn Minuten vorher noch schlafen und stellt den Wecker so, dass er eine Minute vorher aufwacht, um sich bei Zoom einzuloggen.

Von dieser Schlafdisziplin können wir alle etwas lernen.

In den letzten Jahren wurden die kraftvollen Auswirkungen des Schlafes in einer Vielzahl von Artikeln, Podcasts, Studien und Büchern hervorgehoben, vor allem in dem Werk Why We Sleep des Neurowissenschaftlers Matthew Walker. Walker zufolge ist der Schlaf von entscheidender Bedeutung für die Gedächtnisbildung, das Lernen und Heilungsvorgänge. Unser im Vergleich zu anderen Primaten reichlich ausgedehnter REM-Schlaf (Rapid-Eye-Movement- Schlaf, in dem ein Grossteil unserer lebhaften Träume stattfindet) könnte dazu beigetragen haben, unsere soziokulturelle Evolution zu fördern und uns die Möglichkeit eröffnet haben, die Nahrungskette zu dominieren und komplexe Zivilisationen aufzubauen – und dabei unseren Schlaf völlig zu ruinieren.

Denn laut Walker ist die schlechte Nachricht, dass elektrisches Licht, Bildschirme, die blaues Licht emittieren, Koffein und dicht gedrängte Arbeitszeiten unsere Fähigkeit beeinträchtigen, die gleiche Menge und Qualität an Schlaf zu bekommen wie unsere vorindustriellen Vorfahren. Wir haben es mit einem kollektiven Schlafdefizit zu tun, das verheerende persönliche und gesellschaftliche Folgen hat: mehr Herzkrankheiten, mehr Demenz und Alzheimer, mehr Nervosität und Dopaminsucht sowie entsetzlich kostspielige Unfälle wie die Kernschmelze von Tschernobyl oder die Ölpest der Exxon Valdez.

So erschreckend Walkers Diagnose auch sein mag, so einfach ist auch sein Rezept dagegen: Tun Sie alles dafür, jede Nacht acht Stunden Schlaf zu erhalten. Diese Empfehlung hat eine ganze Schlafindustrie auf den Plan gerufen, die Schlafmonitore, Augenmasken oder Verdunkelungsvorhänge, Memory-Schaumstoffmatratzen und Apps anbietet, mit denen man stark reglementierte Schlafhygieneprotokolle einüben kann, indem man seinen Koffein- und Alkoholkonsum, den Stress und die am Bildschirm verbrachte Zeit begrenzt. All diese Hilfsmittel zielen darauf ab, die Art von ungestörtem, hochwertigem Schlaf zu ermöglichen, den unsere Vorfahren jede Nacht genossen haben.

Aber haben sie das wirklich? Nicht jeder kann sich Walkers idealisierter Sicht auf den Schlaf anschliessen. Kritiker weisen darauf hin, dass unsere Vorfahren – die ungeschützt draussen im Dreck schliefen und zwangsläufig auf der Hut vor menschlichen und tierischen Feinden sein mussten – von der Art von Schlaf, für die Walker plädiert, nicht einmal träumen konnten. Ist Walkers 8-Stunden-Schlaf das Äquivalent zu kuscheligen Hausschuhen, einem warmen Bad, einer kalorienreichen Mahlzeit und einem Wochenende auf dem Sofa mit Netflix? Mit anderen Worten: Ist es vielleicht eine Art von Komfort, den wir instinktiv suchen, der aber eigentlich eher schlecht für uns ist?

Womit wir wieder beim Nickerchen wären. Nur wenige Säugetiere, darunter viele moderne erwachsene Menschen, versuchen, mit monophasischem Schlaf auszukommen, d. h. sie schlafen in nur einer einzigen langen Phase. Dagegen schlafen die meisten Tiere über den Tag verteilt in mehreren Phasen, das gilt übrigens bei den Menschen auch für Kleinkinder und ältere Menschen. Bei erwachsenen Menschen tritt ein biologisch bedingter postprandialer (nach dem Essen) Abfall der Aufmerksamkeit ein, der das zu bestätigen scheint, was Siesta-Kulturen seit Jahrtausenden wissen Möglicherweise sind wir eher für einen biphasischen Schlaf geschaffen: also nachts eine längere Schlafphase, der später am Tag ein Mittagsschläfchen folgt.

Während für den modernen Büroangestellten zunehmend Nap-Pods (Schlafkapseln), wie bei Google, Nap-Bars und sogar von Firmen mietbare Nap-Trucks zur Verfügung stehen, ist es viel wichtiger, eine Fähigkeit zu entwickeln, die für Spitzensportler tätige Schlaftrainer als Sleepability bezeichnen – nämlich die Fähigkeit, unter grundlegenden Mindestbedingungen schnell einzuschlafen. Denis hat es geschafft, und seine Schlafroutine ist immer noch die gleiche, die unsere Vorfahren wahrscheinlich schon kannten. Zunächst wählt er eine möglichst feste Unterlage, sei es das hart gepolsterte Sofa in seinem Büro zuhause, oder, wenn er gerade auf einen Flug nach Dakar wartet, ein schönes Plätzchen auf dem Flughafenboden – Hauptsache, er kann sich hinlegen. Er rollt seine Jacke zum Kissen zusammen, deckt sich leicht zu, schliesst die Augen und schläft.

Mikro-Naps, selbst wenn sie nur 10 Minuten dauern, können sich unglaublich erholsam auf den Geist auswirken. Sie können die Kreativität anregen, wie die Power-Napper Albert Einstein und Salvador Dalí behaupteten, oder zumindest dabei helfen, den Wald trotz lauter Bäumen noch zu sehen. Wie Denis es beschreibt: „Ich vergesse meine Sorgen nicht, wenn ich ein Nickerchen mache. Aber es fühlt sich an, als hätte ich sie durch das Land der Träume getragen, weil meine Gedanken dort frei zirkulieren konnten. Das ist keine Magie, aber es hilft mir, ein Problem zu relativieren und ein wenig Abstand und Perspektive zu gewinnen.“ Wenn also Walkers 8-Stunden-Schlaf-Regel etwas ist, das Sie in Stress versetzt, sollten Sie sich der Kraft eines einfachen Nickerchens anvertrauen. Das könnte alles sein, wovon Ihre Vorfahren geträumt haben.

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Matthew Walker, Das grosseBuch vom Schlaf, 2018

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