Brennendes Verlangen

Es beginnt nicht mit einem brennenden Verlangen, sondern mit Beklommenheit. Man ist im Begriff, etwas zu tun, was man noch nie getan hat. An einem Ort, an dem man noch nie war. Und mit Leuten, die man noch nie getroffen hat. Das wäre auch bei all den anderen Sommerferienjobs so, – auf einem Kreuzfahrtschiff oder in einer Konservenfabrik in Alaska –, die einem die Anwerber auf dem Campus mit Aushängen und Broschüren auf der Suche nach motivierten Jobbern schmackhaft machen wollen. Aber dein Job ist etwas ganz anderes: Du wirst den Sommer über Bücher an der Haustüre verkaufen.

Die Verlockung ist das Geld. Du könntest Tausende verdienen, hast du gehört. Du betreibst dein eigenes Geschäft. Und das ist Amerika: Alles ist möglich. Natürlich bedeutet „alles“ auch, dass du scheitern kannst und zum Schluss mit Schulden dastehst. Aber du hast so wenig Ahnung, worauf du dich da einlässt, dass du nichts stärker spürst als den Gewinn, den du bereits in deinen Träumen ausgibst. Einige Leute sind misstrauisch gegenüber dem Unternehmen und seinen Versprechungen – du aber nicht, denn in einem Sommer, als du noch zur Mittelschule gingst, hat deine Mutter genau die gleichen Bücher von einem englischen Sunnyboy gekauft, dessen Namen du seltsamerweise als Large Tooth in Erinnerung hast. Die Bücher hast du nie benutzt, aber du weisst, dass das Produkt real ist.

Die Schulzeit endet und du gehst nach Nashville. Der einwöchige Verkaufs-Crashkurs der Firma fühlt sich an, als wärst du einer Megakirche beigetreten. Alle sind betont fröhlich, positiv und gut gelaunt und überzeugen dich davon, dass die Zukunft dir gehört – wenn du nur dran glaubst und fleissig bist. Du sehnst dich nach einem brennenden Verlangen und spürst es für einen Moment, als du den Hauptvortrag hörst, die beste Rede, die du je in deinem Leben gehört hast. Aber wenn es dann tatsächlich losgeht, verschwindet dieses brennende Verlangen und erlischt so schnell, wie es aufgeflammt war. Du hörst dir weitere Reden an, lernst die Produkte kennen und schleppst deinen türkisfarbenen Musterkoffer mit dir herum. Du übst deine Verkaufsgespräche so oft, dass die Mrs. Jones aus dem Vortrag in deiner Vorstellung Fleisch und Blut annimmt. Sie ist die Mutter deiner Highschool-Freundin, die immer so verrückt nach dir war und dich mit einem freudigen „Hallo“ an der Tür empfing, wenn sie dich hereinliess.

Die Verkaufsseminare enden und man sagt dir, wo dein Verkaufsgebiet sein wird: Mobile, Alabama, weiter südlich geht’s nicht.

Auf der Fahrt dorthin träumst du von Big Brick. Big Brick, so hast du gelernt, sind diese Viertel mit den eleganten Backsteinhäusern, in denen das wahre Geld steckt. Aber du weisst noch nicht, dass im Stadtzentrum von Mobile, wo du arbeiten wirst, weil du kein Auto hast, kleinere Brötchen gebacken werden. Dort steckt das Geld nicht in den Backsteinen, sondern in Holz.

Es lebt im Schatten ausladender, mit spanischem Moos behangener Eichen und auf breiten, schattigen Veranden, die von eifrig rotierenden Ventilatoren gekühlt werden.

Du wirst lange Zeit nichts Luxuriöses sehen. Zuerst musst du es dir verdienen. Du bist neu und deshalb schiebst du dich vorerst durch die langen geraden Reihen von Häusern der unteren Mittelklasse, afroamerikanische Familien, hispanische Familien, kleine Backsteinhäuser, jedes Haus mit einem ordentlichen zaunlosen Vorgarten, der mit Warnschildern von privaten Sicherheitsfirmen dekoriert ist: Privateigentum, Rasen nicht betreten, Vorsicht vor dem Hund.

Du klopfst und man antwortet dir durch das metallene Sicherheitsgitter der Haustür.

“Was willst du?”
“Was treibst du da draussen in der Sonne?”
“Was verkaufst du?”
“Woher kommst du?”

Du stammelst deinen Verkaufstext herunter. Du hast dir noch immer keinen Namen gemacht, kannst keine Verkäufe nachweisen, hast keine Referenzen, aber die Worte scheinen wie Magie zu wirken: Zu deiner Überraschung wirst du hereingebeten. Ein paar Leute kaufen, aber sie zahlen nur kleine Beträge an: 10 Dollar, 5 Dollar oder gar nichts. Verbunden mit dem Versprechen, dir den Restbetrag zu zahlen, wenn du die Bücher am Ende des Sommers vorbeibringst.

Nach und nach wächst dein Vertrauen in diese kleinen Verkaufsgespräche. Du fängst an, in ihnen zu leben, sie zu deiner Realität zu machen, gibst dem ganzen Auftritt eigene Farbtupfer und Gesten, bis es eine Rolle in einem Theaterstück wird, halb du selbst, halb jemand Besseres – jemand, der selbstbewusster durch die Welt geht und sich wohler fühlt.

Am frühen Nachmittag ziehen Stürme auf und in der brütenden Hitze, die sich danach einstellt, kann man den japanischen Efeu, der nach und nach die Büsche, Zäune und Strassenlaternen in einer Geschwindigkeit von einem halben Meter pro Tag verschlingt, praktisch wachsen hören. Eines Tages bist du auf der Flucht vor einem bedrohlichen Sturm, als dich eine Frau hereinbittet. Es ist eine schwarze Frau und etwas zu alt, um Kinder zu haben. Sie hinkt und läuft mit einem Gehstock. Und sie spricht fast so, als würde sie in der Kirche Lobpreisungen von sich geben – lachend, voller Freude. Und eigentlich heisst sie Mrs. Jones. Vielleicht hat sie ein Enkelkind oder eine Nichte. Da bist du dir nicht ganz sicher, aber du nimmst an ihrem Küchentisch Platz, und sie bietet dir gebratene grüne Tomaten auf einem Einweg-Plastikteller an. Du willst im Zeitplan bleiben und versuchst, dein Verkaufsgespräch durchzuziehen, aber du bist nur halb bei der Sache. Eigentlich bist du einfach nur erleichtert, dem Regen entkommen zu sein. Und Mrs. Jones weiss das.

„Wenn du es wirklich willst, musst du es einfordern!“, schreit sie.

Block für Block hast du dich durch das Stadtgebiet von Mobile gekämpft und Mrs. Jones Geschichten erzählt. Aber jetzt wird dir Mrs. Jones ihre erzählen. Sie erzählt dir, wie sie gelitten hat wegen ihrer Familie, ihrem schlimmen Bein, den materiellen Sorgen des Lebens. Aber wenn es um Dinge ging, die wirklich wichtig waren, half ihr Gott, sie einzufordern. Wenn sie es wirklich genug wollte, machte Gott es zu seinem eigenen Anliegen.

„Siehst du das Auto da draussen in der Einfahrt? Ich habe es eingefordert! Im Namen des Herrn!“

Sie hatte dringend ein neues Auto benötigt, und Gott führte sie in das Autohaus und zeigte ihr ein neues Auto: einen grossen burgunderroten Buick. Der Autohändler versuchte, ihr auf den Zahn zu fühlen und sie woanders hinzuführen. Aber sie ging entschieden auf dieses Auto zu, setzte sich auf die Motorhaube und wiederholte, was Gott ihr gesagt hatte. Sie blieb auf der Motorhaube hocken und weigerte sich, sich weiterzubewegen, bis ihr das Auto gehörte.

Du bist dir nicht sicher, was sie genau meint, aber eines ist sicher: Da draussen in ihrer Einfahrt steht ein grosser burgunderroter Buick. Und es ist ihrer.

Und du weisst, dass du zum ersten Mal seit der Verkaufsschulung in ein Gesicht mit brennendem Verlangen blickst. Mrs. Jones sieht zwar nicht aus wie der grosse weisse Mann, der den Hauptvortrag in der Verkaufsschulung gehalten hat, aber beide verkünden mit der gleichen rechtschaffenden Gewissheit, dass das, was sie noch nicht haben, ihnen einmal gehören wird. Einen Moment lang befürchtest du, dass Gott, der Herr, sie dazu bringen könnte, deine Bücher einzufordern. Aber während du ihrer Geschichte zuhörst, spürst du endlich, wie das brennende Verlangen in dir selbst wieder aufflammt.

Du verlässt Mrs. Jones’ Veranda in dem Gefühl der Gewissheit, das dich die nächsten zwei Monate durch ganz Mobile tragen wird – beschwingt auf einem Fahrrad, entlang der kleinen Backsteinhäuser und dem vielen Holz. Du wirst die Leute so gut kennenlernen, dass du ihre komplexen Stammbäume aus dem Gedächtnis aufsagen könntest. Du wirst wissen, wer die Lehrer der Kinder sind, die fürchterlichen und die guten, und du wirst wissen, welche Mutter den besten süssen Tee serviert. Und du verkaufst und verkaufst und verkaufst. Du bist sonnengebräunt, du bist schlank, du verspeist Probleme zum Frühstück, um dir den Erfolg des Tages zu verdienen. Es liegt in dir, es treibt dich an: Du hast dein brennendes Verlangen gefunden.

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