Der Mann, der die Seife aufgab

Vor einem Jahr habe ich aufgehört zu duschen – und ich habe auch aufgehört, Seife zu benutzen. Ich hatte schon eine ganze Zeit darüber nachgedacht, genauer gesagt, seit ich vor ein paar Jahren ein Video des Arztes, Schriftstellers und Gesundheitsexperten James Hamblin gesehen hatte. Er interviewte Menschen, die einfach aufgehört hatten, sich zu waschen. Hauptsächlich, um chronische Hautprobleme zu lindern, die die Medizin nicht heilen konnte.

Ich selbst habe keine chronischen  Hautprobleme, aber ich spürte dennoch, dass ich irgendwie in einer wiederkehrenden Schleife von falscher Hautpflege gefangen war: Duschen, danach schrecklich trockene, juckende Haut bekommen und dann zur Bekämpfung des Problems Feuchtigkeitspflege anwenden. Vielleicht lag die Lösung ja nicht in besseren oder anderen Produkten und vielleicht war das Problem auch gar nicht die Haut. Vielleicht war das Problem das Duschen selbst.

Ich bin kein Experte oder Wissenschaftler. Aber hier die Theorie dazu in Kurzform: Unsere Haut ist vom Mikrobiom – oder genauer gesagt: von Mikrobiomen – besiedelt, die aus vielen Millionen Bakterien bestehen, die sich gemeinsam mit uns entwickelt haben und mit uns leben. Wenn wir sie ständig mit Seife und Pflegemitteln bombardieren, bringen wir sie enorm aus dem Gleichgewicht – mit möglichen negativen Folgen für unsere Haut und unser Immunsystem. Im Westen, wo wir die Probleme grundlegender Hygiene schon lange überwunden haben, sind wir inzwischen vielleicht zu sauber geworden – und gefährden damit unser eigenes Wohl.

Sie fragen sich jetzt vielleicht, ob eine globale Pandemie wirklich der klügste Zeitpunkt war, mit dem Duschen und der Seife aufzuhören. Lassen Sie mich hier deshalb klarstellen, dass mein Weg in die Seifenlosigkeit meine Hände bewusst ausgenommen hat. Ich habe nie damit aufgehört, mir die Hände mit Seife zu waschen, und tue das so häufig, wie es empfohlen wird. Aber sozial gesehen, war die Pandemie dennoch der allerbeste Zeitpunkt, mit dem Duschen aufzuhören, denn in Italien, wo ich lebe, gab es bereits früh Ausgangssperren und Social Distancing, sodass ich fast 18 Monate lang keinen Fuss ins Büro setzte.

Was natürlich hilfreich war. Denn als ich damit aufhörte, entwickelte ich zunächst Körpergeruch. Zumindest am Anfang. Meine Frau, die eine so empfindliche Nase hat, dass sie die meisten handelsüblichen Deodorants und Schönheitsprodukte nicht verträgt, sagte, dass der Körpergeruch nach etwa ein oder zwei Wochen nachliess und ich einfach nur menschlich roch. Meine Kinder sind noch zu jung, um sich über ihren seltsamen Vater zu beklagen. Und meine Freunde … Nun, bisher haben wir die meiste Zeit gemeinsam draussen verbracht und diejenigen, denen ich davon erzählt habe, waren zaghaft interessiert und nachsichtig.

Inzwischen habe ich ein bisschen häufiger Kontakt mit Wasser als am Anfang. Morgens spritze ich mir oft Wasser ins Gesicht und etwa einmal pro Woche dusche ich kurz, nachdem ich joggen gegangen bin. Und das Bidet, diese wunderbare Einrichtung in jedem italienischen Haus, hat es mir sicherlich leichter gemacht, im Laufe der Woche auch andere Körperteile zu reinigen. Ich benutze natürlich noch immer keine Seife, ausser wenn ich mir danach die Hände wasche.

Jetzt ist ein Jahr vergangen. Hat es sich gelohnt? Ich kann Ihnen keine quantitativen Daten zur Entwicklung meines Hautmikrobioms liefern. Aber ich habe auf jeden Fall diesen endlosen Kreislauf von Duschen und Feuchtigkeitspflege durchbrochen und meine Haut fühlt sich einfach gut an. Mein Umweltgewissen ist reiner, denn mein Verzicht bedeutet, dass kein Shampoo und keine Pflegespülungen mehr in den Abfluss und in unsere Meere gelangen. Auch die Wassereinsparung ist enorm. Und interessanterweise habe ich zudem festgestellt, dass ich zum Wachwerden am Morgen nicht mehr duschen muss und dass ich auch nicht mehr so viel Kaffee brauche. Früher habe ich Unmengen getrunken. Jetzt reicht mir ein Espresso am Morgen und einer nach dem Mittagessen. Und selbst die vergesse ich oft. Anstatt mich schlaff zu fühlen und das Gefühl zu haben, auf etwas wesentlich Menschliches verzichten zu müssen, freue ich mich über den disziplinierten Minimalismus, den sich der Mensch leisten kann und der zeigt, dass man tatsächlich auch mit viel weniger gut leben kann.

Und übrigens: Es juckt mich auf meiner seifenfreien Reise überhaupt nicht, es wieder wie früher zu machen.

➝ OPEN NOTE
Autor: Kyle Dugan lebt und arbeitet als Autor und Übersetzer in Varese, Italien.

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