Nevercrew im Close-up!

Wenn man die Viale Stefano Franscini in Lugano zur Hauptverkehrszeit in südlicher Richtung befährt, rechnet man vielleicht mit einem Verkehrsstau – mit Walen eher nicht.

Ohne Meer in Sichtweite präsentiert die Tessiner Stadt jetzt die neueste Wandmalerei des Tessiner Street Art-Duos Nevercrew, in Auftrag gegeben von Arte Urbana Lugano. Das im August fertiggestellte Wandgemälde Close Up, das sich über die cremefarbene Wand eines fünfstöckigen Gebäudes erstreckt, zeigt eine Komposition aus acht realistisch wirkenden Pott- und Buckelwalen unterschiedlicher Grösse. Die Wale springen förmlich aus der Wand, wobei der grösste aus einem Block türkisfarbenem Wassers herausragt.

Auf den ersten Blick scheint es den Walen gar nicht so schlecht zu gehen, doch weil sie übereinander gestapelt sind und einige von ihnen in einem für ihre Grösse deutlich zu kleinen Behälter festzustecken scheinen, wirken sie am Ende vor allem eins, nämlich bedroht – als stünde die ganze schöne Konstruktion kurz vor dem Kollaps.

In ihren Street-Art geht es den Nevercrew-Künstlern Pablo Togni und Christian Rebecchi immer wieder um die Einschränkungen, die wir Menschen der Natur aufzwingen. Am Ufer des Ganges im indischen Varanasi entstand Deflated, die Darstellung einer blauen Fischhülle, die wie eine weggeworfene, zerdrückte Plastikflasche wirkt, in der ein Fisch gefangen ist. Tide im französischen Bayonne stellt einen instabilen Stapel etwas voluminöser wirkender Wale dar, deren missliche Lage selbst ohne visuelle geometrische Anhaltspunkte deutlich wird: eingesperrt in einem Raum – einer Art Sardinenbüchse – die viel zu klein für sie ist. Und in dem verstörenden Werk Celsius, einem thermochromischen Wandgemälde am Spazio Morel, Lugano, verwandelt sich immer wenn die Umgebungstemperatur auf 31° ansteigt ein schwarzer Buckelwal in einen Kadaver, dessen Skelett sichtbar wird.

Eine weitere häufig dargestellte Spezies in den Arbeiten von Nevercrew sind Bären, so z. B. auch in dem Wandgemälde Black Machine. Aber bei Künstlern, denen es um das fragile Gleichgewicht zwischen Menschen- und Tierwelt geht, überrascht es nicht, dass Wale für sie so etwas wie Totem-Tiere sind. Die Wissenschaft beginnt gerade erst zu verstehen, welch zentrale Rolle Wale für das Weltklima spielen. Durch Düngung der lichtdurchfluteten oberen Schichten der Weltmeere mit Mineralien aus der Tiefe sowie durch ihre eigenen Fäkalien – alias Walkot – stimulieren die Wale das Wachstum von Phytoplankton, dessen photosynthetische Wirkung entscheidend für das Leben auf der Erde ist. Ihre Bedeutung stellt selbst die grössten Wälder in den Schatten. So produziert Phytoplankton laut IMF mindestens 50 % des Sauerstoffs unserer Atmosphäre und nimmt 40 % des CO2 aus der Luft auf, was der Leistung von 1,7 Billionen Bäumen oder vier Amazonas-Regenwäldern entspricht.

Vor diesem Hintergrund kann die Gesundheit der Walpopulation, wie Nevercrew in ihrer Beschreibung zu einer anderen Wal-Inspiration, Disposing Machine n°2 (Neuseeland), erläutern, als eine Art Lackmus-Test nicht nur für die Gesundheit der Weltmeere, sondern für unser gesamtes globales Ökosystem dienen.

Die grösste Bedrohung für die Walpopulation geht vom Menschen aus, auch wenn die grosse Walfang-Ära, verkörpert durch Moby Dick, grösstenteils hinter uns liegt. Aber Jahrhunderte der kommerziellen Jagd, der Schiffshavarien, der Lärmbelästigung, der nicht abbaubaren synthetischen Fischernetze und der Entsorgung von Plastikmüll in den Meeren haben ihre Spuren hinterlassen: Die Zahl der Wale hat sich auf etwa ein Viertel der ursprünglichen Menge reduziert, bei bestimmten Arten ist der Rückgang noch dramatischer. Menschliche Aktivitäten, das zeigt Nevercrew, berauben diese mächtigen Tiere ihres natürlichen Lebensraums – zum Schaden für uns alle.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet kann die Arbeit von Nevercrew jedoch auch eine Botschaft der Hoffnung verbreiten – oder zumindest die Möglichkeit einer Umkehr in den Blick nehmen. Kühlt man Celsius ab, so erscheint wieder der vollfleischige Wal; bläst man Deflated auf, erhält der Fisch wieder genügend Raum sich zu bewegen; beim Blick nach oben scheinen die Wale in Tide aufzusteigen und Luft und Raum zurückzuerobern. Können wir es schaffen, den Walen – und damit auch uns – Raum zum Atmen und zum Bewegen zurückzugeben, wenn wir uns entscheiden, unsere gefährlichen menschlichen Gewohnheiten wie das Jagen und die Verschmutzung der Meere einzudämmen?

Schauen Sie sich Close Up in Lugano, Schweiz, Viale Stefano Franscini (Geokoordinaten 46°00’40.3″N 8°57’16.4″E) an. Und entscheiden Sie selbst.

Subscribe to Open
Get the latest in Design, Sustainability and Swissness from Prodir.