Kümmer dich doch einfach mal nicht um dich

Du kannst ihnen nicht entkommen: Selbst wenn du versuchst, gegen die vielen Ratgeber anzuschreiben, schreibst du immer noch einen Ratgeber. Über Svend Brinkmanns Pfeif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn.

Selbsthilfebücher sind Bestseller, der Bedarf scheint enorm. Sie versprechen uns, Probleme in allen möglichen Bereichen unseres privaten und beruflichen Lebens selbständig anzugehen und effektiv zu lösen. Was nicht falsch sein muss, denn jeder von uns hat ja seine Baustellen. Aber während man sich in den 60er und 70er Jahren auf einen langen und oft beschwerlichen Weg machen musste, sein Selbst erst einmal zu suchen, dazu mit dem Risiko, es vielleicht gar nicht zu finden oder sich dabei zumindest kräftig zu verlaufen, sieht es heute so aus, als wäre das Selbst immer schon da und wartete nur darauf, dass sich endlich jemand darum kümmert: Such nicht lange rum, sondern arbeite endlich an dir! Jeder ist seines Glückes Schmied, also schmiede das Eisen solange es heiss ist.

Selbstoptimierung heisst das neue Mantra, das ständige Überwachen und Strukturieren alltäglicher Routinen, um über Körper und Geist das Leben selbst effizienter und besser zu machen. Dazu gehört, den Ablauf des Tages und der Nacht zu kontrollieren, die Hausarbeit bis ins Detail auszufeilen, die Ernährung zum Besten von Körper und Geist zu gestalten, die Freizeit optimal und sinnvoll zu nutzen, was auch bedeutet, nicht einfach nichts zu tun, sondern die freie Zeit für sich einzusetzen, um Muskelkraft, Ausdauer, Weitsicht und Einsicht zu steigern. Essen dient nicht dem Genuss, sondern man isst, was dem Schärfen der eigenen Fähigkeiten nützt, die rundsätzlich, so die allem zugrunde liegende Annahme, grenzenlos sind, denn wer Grenzen akzeptiert, gibt sich bereits auf und beginnt in der Folge, sich zu vernachlässigen. Und das sind die Loser. Natürlich muss auch der Gefühlshaushalt stimmen, weshalb auch Partner und Freunde in erster Linie der Selbstoptimierung dienen, so wie man selbst der Verbesserung jener anderen zuträglich ist, die man in sein Leben einlädt. So passt am Ende alles wunderbar zusammen: ein komplexes Sonnensystem mit jedem Optimierer als strahlendem Stern im Mittelpunkt.

Der dänische Psychologe Svend Brinkmann fürchtet, dass wir so dabei sind, das, was man früher Nabelschau nannte, zum Dogma unserer Weltsicht zu erheben: Wir wollen alle nur noch gesünder, stärker, schöner, klüger werden, am besten alles auf einmal und jeder für sich alleine. Das Leben gerät zum Algorithmus, denn Computerprogramme, Smartphones, Smartwatches, Tracking- und Mess-Apps aller Art befeuern den Wunsch, stets das Beste aus sich selbst herauszuholen und noch das kleinste Detail des Lebens aufzuzeichnen und zu quantifizieren. Es geht nicht nur um Selbstverbesserer, es geht um Selbstvermesser oder Self-Tracker, die jeden Zoll und jede Nanosekunde ihres Lebens in dem allgegenwärtigen Wunsch messen, ihr Leben immer besser zu machen. Bei vielen Menschen, die sich gern als Prototypen des modernen Individuums verstehen, treten die Riten der Optimierung an die Stelle alter Glaubenslehren: Das Ich ist alles.

Doch was geschieht, wenn der Kult um die Selbstoptimierung bereits so stark geworden ist, dass sogar ironische Kritik daran umgehend zum Teil des Kults wird? Svend Brinkmanns Buch Pfeif drauf ! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn wurde nicht nur zum Bestseller, sondern landete auch auf Platz 1 der Selbsthilfebücher. Denn auch die Selbsthilfe gegen die Selbsthilfe verkauft sich noch gut unter Selbsthilfe. „Wir stehen viel zu stark im Bann des Bildes, das wir von uns nach aussen projizieren möchten“, schreibt Brinkmann und empfiehlt in der Tonlage erfolgreicher Ratgeberliteratur, damit aufzuhören, immerzu auf sich selbst zu blicken; er schlägt vor, nicht immer nur schön, glücklich und erfolgreich sein zu wollen, sondern endlich wieder die negativen (!) Aspekte des Lebens in den Mittelpunkt zu rücken, die eigenen Gefühle ruhig auch mal zu unterdrücken, weil so wichtig seien sie nun auch wieder nicht, und sich auf die eigene Vergangenheit zu besinnen und nicht in endloser und grenzenloser Gegenwart zu plätschern.

Zum guten Schluss fordert er alle Selbstoptimierer auf, die mit einem Coach arbeiten, einen radikalen Schritt zu tun: ändert euer Leben, feuert euren Coach. Was einen weiblichen Coach kurz nach Erscheinen des Buches nicht davon abhielt, bei ihm telefonisch anzufragen, ob er nicht Interesse habe, gemeinsam mit ihr ein Anti-Coach-Coaching aufzuziehen.

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Svend Brinkmann, Pfeif drauf! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn, 2018

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