Verschiebe nicht auf morgen, was du genauso gut übermorgen erledigen kannst

Aufschieber sind die kreativeren Menschen. Tatsächlich. Nicht nur, weil wir eine bemerkenswerte Fantasie entwickeln, wenn es darum geht, etwas, das unbedingt zu erledigen ist, erst mal nicht zu tun. Sondern weil wir unsere Gedanken in Ruhe ihre Arbeit machen lassen, vertrauensvoll darauf hoffend, dass sie sich schon zurückmelden werden, wenn sie endlich etwas Originelles zustande gebracht haben.

Bevor es das Internet und vor allem Facebook gab – beides vermutlich von Aufschiebern für Aufschieber entwickelt -, die heute allen eine eher unproduktive Insel virtuellen Rückzugs bieten, war unser Image eindeutig besser. Wir taten zwar nicht, was wir eigentlich tun sollten, aber keiner konnte sagen, wir seien faul. Wir arbeiteten in penibel aufgeräumten Arbeitszimmern mit alphabetisch geordneten Bücherregalen, unsere Küchen waren blitzblank geputzt, und wenn wir uns vom Stress ausruhen wollten, konnten wir uns auf frisch gemähtem Rasen ausstrecken. Und weil für die starken Nerven, die Aufschieber brauchen, gute Nahrung entscheidend ist, war unser Kühlschrank meistens bestens gefüllt und Schokolade immer griffbereit.

Man hat uns vielleicht ein bisschen bemitleidet, aber wir hatten kein schlechtes Image. Mit Facebook, Youtube und Spiegel Online hat sich das geändert – und vielleicht liegt es daran, dass in den letzten Jahren so viele Ratgeberbücher erschienen sind, die uns erklären wollen, wie man damit umgeht, alles immer wieder aufzuschieben, oder kurz und griffig: ein Prokrastinierer zu sein.

Dabei ist Aufschieben sehr zweckdienlich. Selbst Präkrastinierer, also die anderen, die, die immer als erste und vor der Deadline abgeben, scheinen langsam den Nutzen strategischen Aufschiebens zu erkennen. Denn die lange Bank bietet die Möglichkeit, nicht gleich den erstbesten Platz zu besetzen, sondern erst einmal zu sehen, was geht. Mit ihr erkaufen wir uns die Zeit, nicht gleich bei der naheliegenden Lösung hängen zu bleiben, sondern auch ausgefallenere Optionen in Betracht zu ziehen. In einer Studie wies die amerikanische Wissenschaftlerin Jihae Shin nach, dass Mitarbeiter, die sich selbst als Prokrastinierer bezeichnen, von ihren Chefs kreativer eingeschätzt werden als andere. Dinge nicht sofort zu erledigen, mag der Produktivität abträglich sein, ist aber gleichzeitig ein Motor der Kreativität. Denn auch wenn wir an nichts Bestimmtes denken, denken wir weiter an das, an das wir nicht denken.

Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung, gerade bei komplexen Entscheidungen wäre es sinnvoll, möglichst lange und intensiv nachzudenken, kam der niederländische Psychologe Ap Dijksterhuis zu dem Ergebnis, dass es eher die einfachen Entscheidungen sind, die davon profitieren, wenn wir bewusst nachdenken. So kann es sich beim Kauf eines neuen Topflappens als Vorteil erweisen, kurz nachzudenken und erst dann die Farbe zu wählen, weil hellgelbe Topflappen schneller schmutzig werden als bunte. Ganz anders sieht das bei komplexeren Fragen aus. Bei wichtigen Entscheidungen führt das unbewusste Nachdenken, das selbstständig und unbemerkt von uns im Hintergrund läuft, oft zu den besseren Ergebnissen. Unser Hirn glaubt einfach, dass immer dann, wenn wir eine Aufgabe unerledigt im Kopf behalten, von ihm verlangt wird, weiter an ihr zu arbeiten. Besonders kreative Menschen scheinen sich gerade dann am effektivsten einer unkonventionellen Problemlösung zu nähern, wenn sie scheinbar nicht arbeiten, sondern sich Räume und Zeit geben, in denen sich Ideen ausbilden können. Sie widerstehen erfolgreich dem Impuls, eine Aufgabe schnell hinter sich zu bringen, um ein besseres Ergebnis zu erbringen. „Das Aufschieben wirkt wie eine Art Reifeprozess, der verhindert, dass man sich vielleicht zu früh auf die bestimmte Lösung eines Problems festlegt“.

Widerstehen Sie also dem Drang zu schneller Erledigung, auch wenn es riskant scheint und zuweilen mit Stresssymptomen einhergeht. Originale brauchen Aufschieber. Auch Leonardo da Vinci liess die Arbeit an seiner Mona Lisa ab 1503 erstmal ruhen, um sich anderen Projekten zu widmen, bevor er das Bild 1519 vollendete.

➝ OPEN READS
• Ap Dijksterhuis, Think Different: The Merits of Unconscious Thought in Preference Development and Decision Making, Journal of Personality and Social Psychology, 2004.
• Ut Na Sio, Thomas C. Omerod, Does Incubation enhance problem solving? A meta-analytic review, Psychological Bulletin 135, 2009.
• Adam Grant, Originals, 2016.

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