Sicher hat jeder schon einmal am Strand eine schöne Muschel entdeckt und sie ans Ohr gehalten, um das Rauschen des Meeres darin zu hören. Bestimmte Kindheitserinnerung begleiten uns hartnäckig das ganze Leben hindurch, und das Rauschen aus dem Inneren einer Muschelschale ist eine davon.
Der Klang kommt wie von Zauberhand, genau wie damals, als wir Kinder waren und diese Schätze voller Stolz am Ufer des Meers gesammelt haben. Wir haben die Muschel an unser Ohr gedrückt und waren wie verzaubert von der fantastischen Verbindung, die diese Muschel mit ihrer ehemaligen Heimat ausstrahlte.
Ob es möglich ist, dass diese Verbindung nur in unserer Vorstellung existiert? Denn so gern wir auch weiterhin an diese Magie glauben möchten, gleichzeitig wissen wir doch, dass es nicht wirklich das Meer sein kann, was wir da hören. Oder?
Was wir tatsächlich wahrnehmen, sind die Geräuschfrequenzen, die uns immer und überall umgeben, wir hören sie nur in einem veränderten und verstärkten Zustand. Die Spirale im Inneren der Muschelschale ist eine Art „Resonator“, und so wie die Geräusche von den Wänden dieses Hohlraums prallen, verändern sich die Frequenzen zu einer Vibration, die wir im Kopf mit dem Rauschen der Wellen, mit Ebbe und Flut verbinden. Befände man sich aber in einem schalldichten Raum, würde man tatsächlich nichts hören.
Wissenschaftler vermuten, dass der Grund, warum wir dieses Geräusch als das des Meers erkennen, in der erstaunlichen menschlichen Fähigkeit zu suchen ist, bestimmte Muster zu erkennen. Unser Geist sucht in der uns umgebenden Wirklichkeit nach Strukturen, und wenn wir ‚Zufälle‘ entdecken, hilft uns diese Fähigkeit, dem Chaos Sinn zu verleihen. Sie hilft uns, die Welt zu begreifen, in der wir leben. Sie gibt uns das Gefühl, wir hätten die Kontrolle. In einer schnelllebigen Welt jedoch gehen alle Umweltgeräusche nur zu oft in der künstlichen Kakophonie der urbanen Landschaft unter oder werden zu Gunsten von digitalen Ablenkungen einfach ignoriert.
In seinem Gedicht ‚Das All – eine Muschel’ spricht William Wordsworth von einem neugierigen Kind, das überglücklich das geheimnisvolle Sausen aus dem Inneren der Muschel vernimmt, das ihm die Essenz seiner Seele spiegelt. Er beschreibt die magische Verbindung zwischen der Muschel und dem Meer, und wie wir aus dem Inneren ihres konkaven Raums zu Zeugen des Universums selbst werden, wenn ihre Musik die Ebbe und Flut des Seins und des universellen Friedens wiedergibt.
Andererseits mag es sein, dass wir vom Geräusch der Muschel oder vom Jungen aus dem Gedicht etwas lernen können. Vielleicht ist es an der Zeit, uns wieder mit der Natur zu verbinden und uns darauf zu besinnen, wieder wie ein Kind wahrzunehmen. In einer Welt voller Ablenkungen ist es vielleicht gerade nötig, eine Muschel zur Hand zu nehmen und in sie hinein zu horchen, und so wirklich zu hören, welche Schönheit uns in Wirklichkeit umgibt. Sie war schon immer da, wir müssen uns nur auf die richtige Frequenz einlassen.