Was kommt nach der Nachhaltigkeit, Frau Frick?

Manchmal hat man fast schon Mitleid mit der Nachhaltigkeit: Wir konsumieren den Begriff ohne Rücksicht auf Verluste, wie arktische Eiskappen in der warmen Klimawandelsonne, bis nichts mehr übrigbleibt. Dabei verlangt Nachhaltigkeit einen kühlen Kopf, offenes Denken, Geduld und Hartnäckigkeit, sie ist ziemlich anstrengend. Und die Frage ist, wofür das alles?

Überleben ist gut, aber alles andere? Denn wenn wir es wirklich schaffen, mit unseren Ressourcen irgendwann so umzugehen, dass wir sie nutzen und nicht einfach verbrauchen, wie wird die Welt dann aussehen? Oder anders gefragt, lohnt sich der Aufwand? Diese Fragen haben wir Karin Frick gestellt, Leiterin Research des Schweizer Gottlieb Duttweiler Instituts. Die Antworten überraschen und die Aussichten sind vielversprechend. Und wenn’s nicht klappen sollte, sagt sie lachend, haben wir’s wenigstens versucht.

OPEN: Was kommt nach der Nachhaltigkeit, Frau Frick?
KARIN FRICK: Im besten Fall haben wir ein System, in dem wir ohne fossile Energie von Sonnenenergie leben. Die wäre unendlich verfügbar, die heute alles bestimmende Knappheit würde der Vergangenheit angehören, und wir wären frei für andere Dinge. Wir würden in einem Zustand des Überflusses leben, Roboter würden alles machen, alles in ausreichendem Umfang und günstig herstellen, es gäbe 3D Drucker, die gleichzeitig Recyclingmaschinen wären, und wenn man etwas nicht mehr brauchte, einen kaputten Kugelschreiber zum Beispiel, so würde er zunächst zerlegt und dann direkt aus dem Recyklat wieder neu gedruckt, will sagen: hergestellt. Wir hätten genügend Natur, würden grossflächig Permakulturen anbauen, für die man weniger Pestizide brauchte, weil alles mechanisch optimiert wäre, es gäbe zum Beispiel Jät-Roboter, die sich um das Unkraut kümmern. Was würde all das für das Leben der Menschen bedeuten? Nehmen wir an, dass mit der Energiefrage auch die gesellschaftliche Frage gelöst wäre, dann hätten wir sozusagen eine faire Gesellschaft im Überfluss. Natürlich bliebe die Frage, wie man in einer Welt lebt, in der man alles machen kann und nicht mehr arbeiten muss, weil alles von Maschinen geleistet wird. Wie lebt man im Paradies?

Eher entspannt wahrscheinlich.
Auf jeden Fall lohnt es sich nicht mehr, Dinge zu horten. Im Bereich der Information sind wir ja schon heute so weit. Wir wollen ja auch eine Wikipedia-Seite nicht besitzen, sie ist einfach da, und wir nutzen sie. Man könnte höchstens sagen, ich will den anderen alles wegnehmen, aber wenn Sie diese boshafte Intention nicht haben, stellt sich die Frage, warum Sie überhaupt noch Dinge besitzen wollen, die sowieso im Überfluss zur freien Verfügung stehen. Wenn Verteilung kein Problem mehr ist, weil es von allem genug gibt, würde es eine Verschiebung geben, einen neuen Zustand, in dem wir uns fast ausschliesslich mit uns selbst beschäftigen könnten. Es bleibt die Frage, was tun wir denn eigentlich, wenn man alles machen kann und nichts muss. Und, was meinen Sie? Das haben wir schon oft diskutiert. Wenn man hier versucht, Szenarien zu entwickeln, ist das Szenarium „Alles wird gut“ am schwierigsten. Höllen, Niedergang, all das lässt sich wunderbar darstellen. Aber schauen Sie sich nur mal Gemälde vom Himmel an, da ist alles irgendwie ein bisschen langweilig. Denken Sie an die Medien, bad news bekommt mehr Aufmerksamkeit als good news. Ich denke, unser Vorstellungsvermögen vom Paradies ist begrenzt: Vielleicht wollen wir mal hin – Palmen, Meer, Liegestuhl -, aber nach zwei Wochen? Stellen Sie sich vor, Sie müssten nicht mal mehr zurück in den Job und anderes gäbe es auch nicht wirklich zu tun. Ich denke, das ist ein äusserst schwieriges Szenario!

Aber zumindest schafft es neue Freiräume.
Das stimmt, aber wir werden uns Aufgaben schaffen müssen. Ein Szenario kann zum Beispiel sein, dass die Gesellschaft auseinanderwächst, weil es Leute gibt, die gezielt alle Mittel und Möglichkeiten für sich nutzen. Solche Menschen werden immer klüger und lernen alles, was zu lernen ist, sie setzen sich selbst die Ziele: Ich will mehr wissen! Ich will besser werden, in allem, was ich tue, egal, was es ist! Dann gibt es vielleicht andere, die sich gehen lassen, die träge werden, die alles nutzen, was es gibt, aber sich keine Aufgaben stellen. Und wenn zu allem der Körper noch der alte ist, einer, der nicht durch Technik optimiert wurde, dann werden die Menschen irgendwann krank. Wenn ich frage, was macht Menschen glücklich, wäre das durchaus ein Arbeitsgebiet, wo sich die anderen betätigen könnten: Vielleicht ist man theoretisch sogar froh über diejenigen, die es nicht schaffen, in diesem Wohlstand klarzukommen, denn auf diese Weise bliebe den anderen wenigstens die Aufgabe, sie zu erziehen oder zu betreuen.

Oder man geht mit dem Hund spazieren.
Die Frage ist einfach: Welche Aufgaben stelle ich mir selbst? Interessant sind aber auch paradoxe Szenarium, bei denen man zurück in die alte Welt versetzt wird. Das Problem bleibt, wir automatisieren alles, aber was machen wir mit unserer Zeit? Gartenarbeit, von der hatten wir uns doch mal befreit! Wir haben Maschinen, die alle Arbeit erledigen, und am Schluss hat man so viel Freizeit, dass man quasi wieder lebt wie die Grosseltern. Vor diesem Leben bin ich doch mal geflohen, und jetzt soll es wieder mein Lebensinhalt werden, mein eigenes Gemüse anzubauen? Ich könnte, wenn ich wollte, auch von was anderem leben, aber was ist die Aufgabe, die mir Freude macht? Am Schluss fangen wir wieder an, Brot zu backen, nicht weil das billiger ist, sondern weil wir eine Aufgabe suchen, die uns Sinn gibt. Wir würden zurückkehren zu Dingen und Tätigkeiten, von denen wir uns über Generationen befreit haben. Früher hiess es, wer Kühe im Stall hat, stellt sich nicht die Sinnfrage.

Konsum in der Form, wie wir ihn kennen, gäbe es dann nicht mehr?
In dieser zukünftigen Welt, die wir hier skizzieren, bietet Produzieren vermutlich mehr Befriedigung als Konsumieren. Und selbst wenn wir immer noch ein bisschen statussüchtig blieben, wären es wahrscheinlich eher Skills, über die Status definiert wird. Mein Garten ist schöner als der meiner Schwester, oder in irgendwas bin ich besonders gut, in Musik, Mathe, Yoga, was auch immer. Dann hätten wir eine Gesellschaft von Künstlern und Kreativen. Dazu fällt mir übrigens ein Buch ein, Infinite Games von James Carse, kennen Sie das?

Leider nicht.
Da geht es genau um diese Frage, wie kriege ich Sinn in mein Leben. So viele Sachen sind auf Gewinnen angelegt, auch wenn es eigentlich mehr darum geht, dass das Spiel immer weiterläuft – denn dann sind alle glücklich. Das Leben ist hier sozusagen kein Fussballspiel, und auch bei einer Beziehung, geht es nicht darum, den Mann oder die Frau zu gewinnen. Es geht darum, was für ein Spiel wir spielen. Eins, dessen Ziel eben nicht wäre, einer gewinnt und der ist dann glücklich, und die anderen verlieren und sind es nicht, sondern eins, an dem viele teilnehmen, aus dem viele Gewinn ziehen, weil es immer weiterläuft und, vor allem, weil es spannend und inspirierend bleibt.

Danke für das Gespräch, Frau Frick.

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Karin Frick ist Leiterin Research am renommierten Trendforschungsinstitut GDI mit Sitz in Rüschlikon bei
Zürich. Der abgedruckte Text ist ein Ausschnitt eines längeren Gesprächs Anfang Juni 2021.

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gdi.ch

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James Carse, Finite and Infinite Games, New York 1987
Future Skills, Vier Szenarien für morgen und was wir dafür können müssen, 2020 (Als kostenloser Download auf gdi.ch)