Vor langer, langer Zeit war Lesen eine einsame Tätigkeit. Introvertierte Buchwürmer sassen stundenlang in ihren Zimmern und tauchten ab in andere Zeiten und lebten an imaginären Orten. Und jetzt? Plötzlich ist Lesen nicht nur eine Gruppenaktivität, es ist zur Party geworden.
Doch vielleicht kam es gar nicht so plötzlich. Buchclubs und literarische Gesellschaften gibt es schon seit hunderten von Jahren, seit aber Oprah Winfrey in den 1990er Jahren in ihrer Fernsehshow als erste das Model des Prominenten-Buchclubs vorgestellt hat, folgten zum Beispiel die Schauspielerin Reese Witherspoon oder die Sängerin Dua Lipa und brachten ihre Buchclubs in die sozialen Medien. Heute setzen kleinere Buch-Influencer in verschiedenen sich an Büchern orientierenden Subkulturen wie BookTube, Bookstagram und, ganz neu, BookTok diese Tradition fort. Diese Prominenten und Influencer sind ein Segen für die Verlage, denn sie bringen Menschen aus allen Generationen dazu, Bücher zu kaufen, Bücher zu lesen und über Bücher zu sprechen.
Doch abgesehen von den sozialen Medien weiss jeder, der jemals in einem echten Buchclub war, welche Probleme sich dort bisweilen auftun können. Man verabredet sich an einem bestimmten Tag, und dann hat die Hälfte der Leute das Buch noch nicht gelesen. Oder sie haben schon vorgewarnt, dass es so sein könnte, und das Treffen wird auf das nächste Mal verschoben, oder auf das übernächste und schliesslich auf unbestimmte Zeit vertagt. Vielleicht haben aber alle tatsächlich die verabredeten Seitenzahlen gelesen, doch es stellt sich heraus, nicht im selben Buch … man kann sich auf nichts einigen. Und wenn es an der Zeit ist, ein neues Buch auszuwählen, kommt man auch da zu keiner Einigung.
Mit anderen Worten, Buchclubs können aus dem Lesen eine lästige Pflicht machen. Es gibt sogar Hausaufgaben! Geht es also eingefleischten Leseratten, denen nichts lieber ist, als in der Geschichte eines Buchs aufzugehen, beim Lesen darum?
All das mag der Grund dafür sein, dass es in letzter Zeit eine Bewegung hin zu einer neuen Erfahrung in Lesegruppen gegeben hat, eine, die weit über das häusliche Wohnzimmer hinausgeht: die stille Leseparty. Die erste „offizielle“ stille Leseparty fand angeblich im Jahr 2009 im Sorento Hotel in Seattle statt und wurde von dem Schriftsteller und Lektor Christopher Frizzelle ins Leben gerufen. Die Teilnehmer treffen sich zum gemeinsamen Lesen im gemütlichen, holzgetäfelten Kaminzimmer, lauschen dabei stilvoller Live-Klaviermusik, nehmen einen Drink und unterhalten sich vielleicht. Was diese Art von Buchclub so einzigartig machte, war die Tatsache, dass in einem Raum voller Fremder niemand dasselbe Buch las und überdies war Reden freiwillig.
Die Idee fand schnell neue Anhänger und 2012 wurden die ersten Silent Book Clubs gegründet, die alle auf denselben minimalen Prinzipien aufbauten: Trefft euch in einem Café, bringt eure eigenen Bücher mit und: Ihr müsst nicht reden, wenn ihr nicht möchtet. Das Model wurde ausgebaut, indem eine Dachorganisation ins Leben gerufen wurde, die überall auf der Welt neue Clubs gründete. Aus den USA kommend, genauer gesagt aus New York, hat sich jetzt in Italien eine neue Variante dieses Club-Typs aufgestellt: Sie nennt sich Reading Rhythms (Leserhythmen). Das Neue an dieser Variante scheint abgesehen vom geschützten Markenzeichen Reading Party™ aus kuratierter Musik und alkoholfreien Events zu bestehen. Im Eintrittspreis von 16 € zu einer Veranstaltung in Mailand im Dezember sind Tee und Kekse enthalten.
Man wird bestimmt darüber streiten, welcher Generation die Idee gehört, aber am Ende ist es auch unwichtig, wer damit begonnen hat, wenn man an einem von vielen ähnlichen Erlebnissen teilhaben kann, die man zum Beispiel auch selbst organisiert. Egal, ob man es nun einen Buchclub oder eine Leseparty nennt, es ist in jedem Fall erfrischend, sich mit dieser einst so einsamen Tätigkeit des Lesens in einer Gruppe Gleichgesinnter wiederzufinden. Sei das nun in einem Café oder in einem Wohnzimmer. Bring ein paar Freunde zusammen oder schliess dich ein paar hundert Leuten an, die du noch nie zuvor gesehen hast. Alkohol ist optional. Es ist auch freigestellt, ob man mit einander redet oder lieber nicht. Das einzig Wichtige bleibt dein Glaube daran, dass eine geteilte Leidenschaft für das Lesen gefeiert werden sollte.