Wie oft bringen Sie Ihre Zeitkapsel auf den neusten Stand?

Zeit heilt alle Wunden, sagt der Volksmund. Das stimmt aber nicht, wenn sich durch den Lauf der Zeit Werte und Wahrnehmungen von Ereignissen verschieben und sich jener Spruch über die Zeit umkehrt, und Zeit möglicherweise beginnt, Wunden aufzureissen. Muss man also seine persönliche Zeitkapsel immer wieder öffnen und auf den neusten Stand bringen? Aber was tut das mit dem Inhalt, der am Ende nicht mehr die verstrichene Zeit konserviert, sondern sie dem jeweiligen Heute unterordnet?

Zum Beispiel Volker Schlöndorfs Film „Die Blechtrommel“ als Zeitkapsel aus dem Jahr 1979. Als ich diesen Film meinen US-amerikanischen Studenten in meinem Filmkurs zeigte, lief eine neunzehnjährige Studentin plötzlich weinend aus dem Vorführraum und beschuldigte mich im Hinauslaufen lauthals, vorher keine Triggerwarnungen gegeben und sie damit unvorbereitet einem Film ausgesetzt zu haben, der abgesehen von viel zu viel Sex und Gewalt gegen Frauen, Kinderpornografie enthalte! Heulend klagte sie mich an, ich hätte sie warnen müssen, damit sie wenigstens vorher ein Xanax hätte nehmen können, um den Film und die darin ausgeübte sexuelle Gewalt ertragen zu können. Die Rede ist von der Stelle im Film, als Oskar mit Maria am Strand ist und Brausepulver aus ihren Handflächen und aus ihrem Bauchnabel leckt. Jetzt, tobte die Studentin weiter, müsse sie eine doppelte Dosis Xanax nehmen und damit wäre sie mindestens zwei Tage nicht mehr in der Lage, am Unterricht teilzunehmen. Sie werde, schrie sie, nicht über den Film arbeiten oder auch nur weiter nachdenken. All das teilte sie auch schriftlich dem Dekanat mit, denn ihre Kursnote dürfe nicht beeinflusst werden von der ihr angetanen Gewalt. Sie sei, schrieb sie, nicht nach Berlin gekommen, um in einem Kurs Kinderpornografie sehen zu müssen. Kurz darauf verliessen weitere Studenten die Filmvorführung und auch sie beschwerten sich beim Dekanat über die gewagt sexuellen Inhalte des Films und die Zumutung, dem unvorbereitet ausgesetzt gewesen zu sein. Als Folge dieser Vorgänge darf ich „Die Blechtrommel“ in meinen weiteren Filmkursen nicht mehr zeigen.

Betreutes Leben
Die StudentInnen forderten in ihrer Beschwerde, alle Filme im Kurs müssten mitù Triggerwarnungen versehen sein, damit sie entscheiden könnten: Sehen oder nicht sehen. Seit etwa zwanzig Jahren ist diese Praxis an US-amerikanische Universitäten zum Schutz ihrer Studenten und Studentinnen zur gängigen Praxis geworden. Lehrveranstaltungen müssen um mögliche Traumata vor allem im Bereich von Gewalt, Hautfarbe, Geschlecht oder Sexualität zu vermeiden, mit Triggerwarnungen versehen werden. Darum forderten meine StudentInnen einen Zensureingriff in eine Zeitkapsel, einen Film nämlich, der 43 Jahre alt ist. Der Anglist Ingo Berensmeyer schrieb in der FAZ, Wissenschaft benötige kein „betreutes Lesen“ und meinte damit, dass Triggerwarnungen für die akademische Beschäftigung mit literarischen Texten zu vermeiden seien. Ein Studium darf nicht zum Aufenthalt auf dem Ponyhof, zur Feier einer heilen Welt verkommen.

Panikstörungen und Depressionen
Nur als Fussnote: Xanax ist ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine, das zur Behandlung von Angstzuständen, von Panikstörungen und Depressionen eingesetzt wird. Unter US-amerikanischen Stu-denten hat es stark an Popularität gewonnen, es wirkt extrem schnell und wird als Verstärker für die Wirkung von Alkohol geschätzt. Nebenwirkungen von Xanax sind Bewusstseinsveränderungen und Verlust der Urteilskraft. Ärzte bezeichnen den Gebrauch von Xanax an US-amerikanischen Universitäten heute oft als epidemisch.

Welt in Watte
Triggerwarnungen versuchen, die Welt in Watte oder moderner, in Luftpolsterfolie zu packen und die Konsumenten, Leser, Zuschauer, Museumsbesucher, Raucher etc. auf alles vorzubereiten, was sie unter Umständen nicht gern sehen, was sie irritieren, sie bedrücken oder in Panik versetzen, was ihnen subjektiv schaden könnte. Auf der Grundlage von Triggerwarnungen wollen sie entscheiden, was sie tun, was sie nicht tun, ohne das, worüber sie entscheiden, gesehen, gelesen, ertastet zu haben. Wie aber soll das gehen? Ganz abgesehen davon jedoch darf Kunst ausser für den Transport weder in Watte noch in Luftpolster verpackt werden, denn das widerspricht ihrem innersten Sinn. Kunst, also Filme, Literatur, Plastiken, Gemälde, Musikstücke, Performances sollen ja gerade erschrecken, erstaunen, aufrütteln, entzücken oder sie soll (hauptsächlich in früherer Zeit) unseren Herrgott ehren, der am Kreuz starb, damit wir in den Himmel kommen. Dass da ein blutrünstiges Folterspektakel dargestellt wird, berührt gleichwohl kaum jemanden, und bei Jesusbildern mit Dornenkrone, Lanze in der Seite oder mit Lendenschurz am Kreuz brüllt niemand nach Triggerwarnungen oder erleidet einen Heulkrampf.

Der Hund in der Mikrowelle
In den USA ist man an Derartiges gewöhnt, denn auf allen Dingen des täglichen Lebens steht oft mit geradezu absurd-genialer Detailfreude, was man damit machen kann und was nicht – Triggerwarnungen eben: Haarwasser nur in die Kopfhaut einmassieren, nicht trinken; den Pistolenabzug nur abziehen, wenn die Waffe nicht gegen einen selbst oder eine andere Person (es sei denn einen Feind) gerichtet ist; nicht in einen Pool ohne Wasser springen; Fön nicht mit in die Wanne nehmen; gewaschene Hündchen nicht in der Mikrowelle trocknen … Mit einer derartigen Einschätzung der Bevölkerung als Vollidioten entledigt sich die Obrigkeit über Warnungen dieser Art in Wirklichkeit einer Haftung gegenüber möglichen Klagen. Eigentlich geht es, wie immer, ums liebe Geld und nicht ums Wohlergehen. Darum steht dort z.B. auf Bananen die Warnung, die Schale könne nicht mitgegessen werden. Und um ganz auf Nummer sicher zu gehen, steht da auch, dass die Bananen, die 2,99 $ das Kilo kosten, gluten- und cholesterinfrei seien, während bei denen für 1,09 $ diese Angabe fehlt. Vollidioten eben!

Leben ohne Stress
Mit Triggerwarnungen also auf alles vorbereitet und gegen alles und jedes gewappnet kann das Leben, wie es scheint, problemlos verlaufen, auch wenn alle Zeitkapseln am Ende wohl leer wären: Nicht sehen, was uns schaden könnte; nichts hören oder spüren, was nicht ins Weltbild passt. Die Gefühle werden durch die Vereinheitlichung der Welt normiert, die Welt wird gleichgeschaltet und das Leben in Watteverpackung gegen jede Art von Unbill verbracht: Life – without the stress of living –, wie der Slogan aus dem Film von Adam McKay „Don’t Look Up” mit Leonardo DeCaprio und Jennifer Lawrence lautet: „Leben – ohne den Stress am Leben zu sein“.

➝ OPEN NOTE
Herbert Genzmer lebt als Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Tarragona und Berlin.