Im Takt bleiben. So oder so

Das amerikanische Start-up Boom Supersonic will abermals die Schallmauer der Zeit durchbrechen, ab 2025 wird das Unternehmen in North Carolina als ersten Schritt in Richtung einer „Überschall-Renaissance“ die Overture, ein Überschallflugzeug der nächsten Generation bauen. 2029 soll die Overture dann den kommerziellen Flugverkehr zwischen Nordamerika und Europa aufnehmen.

Die Aérospatiale-BAC Concorde, das ehemalige Flaggschiff der französisch-englischen Luftfahrt, halbierte ab 1976 über ein Vierteljahrhundert lang die Reisezeit auf der Strecke Paris oder London – New York und reduzierte sie auf dreieinhalb Stunden. Im November 1986 absolvierte die Concorde einen Rundflug um die Welt in nur dreissig Stunden. Mit über zweitausend km/h, also mit fast zweifacher Schallgeschwindigkeit, lag die Fluggeschwindigkeit der Concorde über doppelt so hoch wie die der Konkurrenten, sodass es beim Überholen anderer Flugzeuge schien, als würden diese rückwärts fliegen. Bei Flügen gen Westen lag dank der Magie der Zeitzonen die Ankunftszeit vor der Abflugzeit. Damals prägte man den griffigen Werbeslogan „Arrive before you leave“.

Am 25. Juli 2000 kam es dann zum verhängnisvollen Absturz des Air-France-Fluges 4590, eine Verkettung unvorhersehbarer Ereignisse, beginnend mit einem unbedeutenden Metallstück auf der Rollbahn, führte zur Katastrophe, die das Ende der Concorde und damit des internationalen Überschallflugs besiegelte. Auch der Versuch, den Ver-kehr mit verbesserten Maschinenteilen

wieder aufzunehmen, scheiterte und mit ihrem letzten Flug von London nach New York im Juni 2003 wurde die Concorde stillgelegt, das Vertrauen in Überschallflüge war erloschen, ausserdem sei sie, so die gängige Kritik, zu teuer, zu unbequem, zu umweltbelastend. Die Zeit der Concorde war vorbei. Aber nichts währt ewig, und so stellt sich heute eine neue Generation von Flugzeugbauern der Herausforderung. Die neue Overture hat die stromlinienförmige Form ihrer berühmten Vorgängerin übernommen, ist aber mit etwa 70 Sitzplätzen kleiner, die Flüge werden kostengünstiger, man fliegt zum Preis einer normalen Business Class und vor allem emissionsfrei und damit umweltfreundlich – unabdingbare Voraussetzungen in Zeiten des Klimawandels. Wie ihre berühmte Vorgängerin fliegt auch die Overture wieder in zwanzig Kilometern Höhe, über sich den dunklen Weltraum und unter sich die Krümmung der Erde.

In den letzten Jahren wurde unser Bewegungsspielraum durch Vorsichtsmassnahmen erheblich eingeschränkt. Gleichzeitig schien sich die Zeit nahezu grenzenlos auszudehnen, da wir viele unserer üblichen Aktivitäten einstellen mussten. Monatelang waren wir wie Gefangene auf engstem Raum eingesperrt und weite Reisen wurden zum unerfüllbaren Traum. All das ist nicht neu, geht man in frühere Zeitalter, so fand eine der berühmtesten Reisen 1794 in einem Zimmer statt, als François-Xavier de Maistre, ein junger Offizier des Königreichs Savoyen, nach einem Duell mit einem Rivalen zu zweiundvierzig Tagen Hausarrest verurteilt wurde. Unter diesen widrigen Umständen unternahm De Maistre seine Reise um mein Zimmer und erzählte ausschliesslich inspiriert von Fantasie und Ironie: „Wagen Sie es, mich auf meiner Reise zu begleiten! Wir werden in kleinen Tagesreisen spazieren gehen und während des Weges über Reisende lachen, die Rom und Paris gesehen haben – kein Hindernis kann uns aufhalten. Und indem wir uns fröhlich unserer Fantasie hingeben, werden wir ihr folgen, wohin es ihr gefällt, uns zu führen.“ De Maistre war nur für anderthalb Monate eingesperrt, nicht für zwei Jahre wie wir! Somit ist es nur allzu verständlich, dass wir so bald wie möglich und sozusagen mit Überschallgeschwindigkeit wieder verreisen wollen.

Die Reisezeit bestimmt die Grenzen unseres Lebensraums. Liegen nur drei Stunden zwischen den beiden Seiten des Atlantiks, ändert sich vor allem die Arbeitswelt. Die Routen Paris oder London – New York waren in dieser Hinsicht schon immer von entscheidender Bedeutung. In den späten 1920er Jahren, als Telegraf und Radio bereits sofortige Kommunikation ermöglichten, benötigten Ozeandampfer für die Überfahrt je nach Seegang immerhin noch vier bis fünf Tage. Aus diesem Grund wurde zweihundert Meilen vor der amerikanischen Küste von dem Dampfer „Île de France“ ausgehend ein kleines Flugzeug mit einer Katapultanlage gestartet, um Post und Geschäftsleute schneller nach New York zu bringen. Sicher, es geht um Arbeit, aber eben auch um Liebe, Familie und Freizeit, und schnelleres Reisen bedeutet neue Möglichkeiten, neue Interessen, neue Lieben. Und wie sieht es mit dem vielgerühmten langsamen Reisen aus? Es erfreut sich nach wie vor grosser Beliebtheit und ein zügiger Schritt, zwischen drei und fünf Kilometern pro Stunde, entspricht nach wie vor unserer natürlichen und perfekt auf unsere Sinne und Gedanken abgestimmten Geschwindigkeit.

Doch bei all dem geht es heute weder um eine nostalgische Rückkehr in die Vergangenheit noch um die Hinwendung zu einer hypertechnologischen Zukunft, es geht darum zu lernen, mit einer Welt unterschiedlicher Geschwindigkeiten umzugehen, ohne als selbstverständlich vorauszusetzen, dass das Schnellste immer das Beste für uns ist. Im Takt zu bleiben hat nichts mit Geschwindigkeit oder Langsamkeit zu tun. Das ist Musikern und Fechtern wohlbekannt, die es meisterhaft verstehen, sich für das perfekte Tempo einer Musikpassage oder eines Fechthiebs zu entscheiden.

➝ OPEN NOTE
Claudio Visentin lehrt Geschichte des Tourismus an der Università della Svizzera Italiana, Lugano.

Photo credits:
Copyright © 2022 Boom Supersonic