Messer ohne Klinge

Wie nennt man ein Messer ohne Klinge? Seitdem Victorinox, Hersteller des original Schweizer Armeemessers, kürzlich angekündigte, eins der neuen Modelle des kultigen Werkzeugs bekäme kein Messer mehr, wartet die Welt auf eine Antwort auf diese Frage.

Die Nachricht erregte überall auf der Welt Erstaunen, dabei sollte es gerade für altbewährte Fans des Schweizer Armeemessers keine wirkliche Überraschung sein. Denn Victorinox hat für das, was man in der Schweiz und überall auf der Welt als Taschenmesser betrachtet, längst ein vollkommen neues Konzept erfunden. Im Jahr 1891 erlangte Karl Elseners Produktionsfirma für chirurgische Geräte den Auftrag, das offizielle Soldatenmesser Modell 1890 der Schweizer Armee herzustellen und schlug damit den deutschen Mitbewerber Solingen. Doch schon zu jener frühen Zeit war dies Taschenwerkzeug viel mehr als nur ein Messer: Es verfügte über eine Ahle (um Löcher zu stossen), einen Büchsenöffner (um die militärischen Dosenrationen zu öffnen) und einen Schraubendreher, um das Standardgewehr der Schweizer Armee von Schmidt-Rubin zusammen und auseinander bauen zu können.

Damit hat Victorinox eins der berühmtesten Schweizer Exportgüter geschaffen, und ihr Herangehen an die Bedürfnisse des Marktes findet sich bereits hier, in ihrer Entstehungsgeschichte: Der Markt rief und Elsener antwortete und schuf einen Gegenstand, der sehr viel mehr ist als ein einfaches Messer.

Und im Lauf des vergangenen Jahrhunderts ist aus dem Schweizer Armeemesser noch viel, viel mehr geworden: Victorinox hat Schweizer Armeemesser hergestellt, die über ein Vergrösseruungsglas, einen Kompass, ein LED-Licht und einen USB-Stick mit einer Speicherkapazität von 32 Giga verfügen. Das Super Champ XXL von Victorinox hat ganze 73 verschiedene Funktionen, und das 16999 Giant von Wegener, einem historischen Schweizer Konkurrenten, den Victorinox 2006 aufgekauft hat, bietet sogar 140. Das Unternehmen gewinnt weiterhin Designpreise, aber mal ehrlich, das Wegener Giant ein „Taschenmesser” zu nennen, wie es das Guinesss Buch der Rekorde tat, scheint der allgemeinen Vorstellung von einem Taschenmessser nicht wirklich gerecht zu werden.

Victorinox stellt immer zeitgerechte Produkte her. Elseners erste Messer waren noch aus Eisen, doch als im Jahr 1921 rostfreier Stahl auf den Markt kam, wurde er sehr schnell zum wichtigsten Bestandteil. Der Name des Unternehmens ist eine Wortschöpfung aus dem Namen von Elseners Mutter, Victoria, und dem französischen Wort für rostfrei: inox, kurz für acier inoxydable. Die berühmten roten Griffschalen des Messers bzw. seine Seitenteile werden aus Cellulose Acetate Butyrate (CAB) gefertigt, einem haltbaren Polymer, das dank der Schweizer Brüder Camille und Henri Dreyfus ungefähr um dieselbe Zeit wie der rostfreie Stahl auf den Markt kam. Victorinox entwickelt sich ständig weiter.

Doch die Zeiten ändern sich – bisweilen langsam und dann wieder kommt alles auf einmal. Mein erstes Victorinox-Messer wurde für Familien des 21. Jahrhunderts hergestellt, deren Kinder mehr Erfahrungen mit Spielekonsolen als mit taschengerechten Werkzeugen haben. Aus diesem Grund bekam es eine sicherere, weil abgerundete Spitze. Und als die Flughäfen nach dem 9. September 2001 weltweit ihre Sicherheitsmassnahmen so sehr verschärften, dass auch Taschenmesser nicht mehr an Bord erlaubt waren, erweiterte Vitorinox seine Produktpalette um Gepäckstücke, Uhren und sogar Parfüms. Aus all diesen Gründen ist also diese letzte Ankündigung des Unternehmens nur ein weiterer Beweis für seine ständige Weiterentwickling. Als Antwort auf die zunehmenden Einschränkungen vieler Länder für das Tragen von Messern hat sich Victorinox für die Herstellung eines Taschenmessers ohne Messer entschieden. Doch damit wir uns richtig verstehen, Victorinox wird auch weiterhin Hunderttausende spitze, scharfe Schweizer Taschenmesser mit Messern herstellen, dieses besondere neue Messer ohne Klinge jedoch wird wie die Kindermesser, die Messer mir USB-Sticks oder Victorinox Uhren ein neuer Teil ihrer Produktpalette – ganz gleich, wie sie es am Ende nennen werden. Bei einer derart multifunktionalen und langlebigen Ikone kann es anders gar nicht sein.