Motte, Fledermaus, Monster – was könnte das sein? Über ein Jahrhundert, nachdem der Schweizer Psychiater Hermann Rorschach der Welt zum ersten Mal sein Formdeutungsverfahren oder den Tintenklecks-Test vorstellte, helfen diese wilden Formen immer noch dabei, genau das zu sehen, war wir uns selbst kaum zu enthüllen wagen.
Wir schreiben das Jahr 1921, die Nachkriegsfeierlichkeiten kommen langsam zu ihrem Ende, die Wunden des 1. Weltkriegs verheilen weiterhin nur langsam, der gebürtige Schweizer Künstler Paul Klee hat gerade erst seine Stellung am Bauhaus angetreten, wo er seinen Ruf als „Vater der abstrakten Malerei“ begründen wird und in der kleinen Stadt Herisau im Schweizer Kanton Appenzell Ausserrhoden schreibt Hermann Rorschach seine Psychodiagnostik, eine der seltsamsten psychologischen Monographien aller Zeiten.
„Was sollen diese Bilder eigentlich darstellen?“, werden sich Rorschachs Zeitgenossen gefragt haben. Wir sprechen hier über die Blütezeit von Freud und der Psychoanalyse. Rorschachs Doktorvater, der Psychiater Eugen Bleuler, der auch der Lehrer von Carl Jung war, beschäftigte sich mit Experimenten im Zusammenhang mit Wortassoziationen. Inmitten all dieser Therapien um das gesprochene Wort jedoch, lag Rorschachs Interesse bei seltsamen Tintenklecksen auf Papier.
Inspiriert von Klecksographien
Eigentlich hatte er sich schon immer dafür interessiert und wegen seiner besonderen Vorliebe für dieses Phänomen war sein Spitzname als Jugendlicher Klecks. In der Zeit vor der Erfindung des Kugelschreibers war verschüttete oder verschmierte Tinte auf Papier ein landläufiges Problem für alle schreibenden Menschen. Und Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte der deutsche Arzt Justinian Kerner Klecksographien, einen Gedichtband illustriert mit Tintenklecksen, die zu fantasievollen Abbildungen von Menschen und Tieren ausgearbeitet worden waren. In Klecks‘ Kindheit war durch dieses Buch eine Art Gesellschaftsspiel entstanden, die Spieler forderten voneinander: Schau dir den Tintenklecks an und sag uns, was du darin siehst!
Rorschachs Vater, ein Kunstlehrer, hatte ihn schon immer ermutigt, sich mit Kunst zu beschäftigen, darum faszinierte ihn das Spiel. Doch er wollte nicht nur begreifen, was die Menschen in diesen Tintenklecksen sahen, es ging ihm vor allem um das Wie und Warum. Er begann seine Studien zur Wahrnehmung von Tintenklecksen mit Kindern und beschäftigte sich erst später mit Erwachsenen, als er seine Dissertation abschloss und die Stelle des stellvertretenden Direktors am psychiatrischen Bezirkskrankenhaus in Herisau einnahm.
Der Testablauf
Nachdem er 300 verschiedene Tintenkleckse entworfen und getestet hatte, entschied sich Rorschach für 10 davon und legte die Reihenfolge für ihre Abfolge fest, die immer mit der Frage begann: „Was könnte das sein?“ Die Kleckse waren merkwürdige, nahezu spiegelsymmetrische Bilder, einige in Schwarz-Weiss, andere in verschiedenen Farben. Manche Testpersonen sehen Tiere oder Menschen, andere furchterregende Ungeheuer. Es handelt sich bei diesem Testverfahren um einen so genannten projektiven Test, es geht darum, Bedeutungen zu ermitteln, die die Testpersonen auf zweideutige Vorgaben projizieren, die möglicherweise mit der natürlichen menschlichen Anlage zusammenhängen, willkürliche Muster erkennen und ihnen eine Bedeutung zuschreiben zu wollen.
Interessanterweise ist es gar nicht so wichtig zu sagen, was man in jedem einzelnen Tintenklecks sieht, es geht vielmehr darum, wie man an die Aufgabe herangeht. Betrachtet man den ganzen Klecks oder nur einen Teil? Konzentriert man sich auf die Farbe oder die Form? Oder schaltet man ab, wenn man sich der Aufgabe gegenübersiehst, dem ganzen einen Sinn geben zu wollen? Nachdem man dann beschrieben hat, was man sieht und sich dann abermals den Bildern zuwendet, um über die Gedankengänge zu sprechen, die zu der entsprechenden Beschreibung geführt haben, werden alle Antworten auf der Basis eines komplizierten Kodierungssystems bewertet, das auf normativen Antworten basiert.
Es mag erstaunen, dass Rorschach seinen Test eigentlich als Nachweis von Schizophrenie konzipierte. Wie Autismus ist der Ausdruck heute weit verbreitet – übrigens wurden beide Begriffe von seinem Lehrer Bleuler geprägt. Mit anderen Worten, es handelt sich weder um einen Kreativtest noch soll es ein Persönlichkeitstest sein, obwohl in den Jahren nach Hermanns Tod 1922 durch eine Bauchfellentzündung nach einer verschleppten Blinddarmentzündung und kurz nach Fertigstellung seines Buchs der Rorschach-Test genau dafür und noch sehr viel mehr verwendet wurde.
Vergangenheit und Zukunft von Tintenklecksen
Im Verlauf des vorigen Jahrhunderts ist der Test auf der ganzen Welt und von verschiedenen „Schulen“ verwendet worden, die in Frankreich, Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden sind. Immer wieder jedoch wurde er mit jeweils neuen Argumenten angegriffen, er sei nicht wirklich verlässlich oder überhaupt gültig, hiess es, er überdiagnostiziere Pathologien, er sei zu eurozentrisch oder erinnere einfach zu sehr an die inzwischen in Ungnade gefallene freudsche Psychoanalyse. Tatsächlich hat seine anhaltende Beliebtheit jedoch zu neuen, systematischeren, strengeren und erweiterten Versionen von Rorschachs äusserst origineller Erfindung inspiriert. Eine abermalige Welle der Kritik in den frühen 2000er Jahren, wurde von einer umfassenden Prüfung von Testergebnissen des Jahres 2013 widerlegt. Zumindest im Moment bildet sie einen starken Rückhalt für die weitere Verwendung des Tests in der Psychotherapie.
Es gibt nicht den einen Test, der auch dem intelligentesten Arzt alles darlegt, und der Rorschach-Tintenklecks-Test wird vermutlich als eins von vielen psychologischen Werkzeugen weiter existieren. Er stammt aus einer Zeit sehr fruchtbarer Neuerungen, die nicht nur psychologische Fortschritte hervorbrachte, sondern auch die abstrakte Kunst: Klecks‘ kleine Tintenkleckse faszinieren uns immer noch und helfen uns dabei, das menschliche Wesen auch noch ein Jahrhundert nach seiner genialen Erfindung zu verstehen.