Sollte Europa mehr Seetang essen?

Wie viele Supernahrungsmittel kennst du? Online findet man Listen, die zwischen 10 und 30 verschiedene Nahrungsmittel nennen, unter anderen finden sich da Grünkohl, Mandeln, Avocados, Süsskartoffeln, Olivenöl, Knoblauch und Ingwer. Sie sind alle pflanzlich, aber kein einziges dieser Lebensmittel stammt aus dem Meer. Ausser Algen.

Das ist einer der Gründe, warum Seetang eins der aufregendsten neuen Nahrungsmittel ist, das in dieser inoffiziellen Lebensmittelkategorie einen der begehrtesten Plätze einnimmt. Nur zur Erklärung: Der Ausdruck Superfood oder Supernahrungsmittel, der meist für Lebensmittel mit aussergewöhnlich hoher Nährstoffdichte verwendet wird, ist durch keine wissenschaftliche Studie gestützt und darf in der Europäischen Union nicht zur Marketingzwecken verwendet werden.

Doch warum sind Algen wichtig? Zahlreiche Argumente sprechen für eine Ernährung mit einem höheren Anteil an Algen, das lässt vor allem die junge europäische Algenzuchtindustrie verlauten, die von Irland bis Finnland stark im Kommen ist. Algen enthalten eine grosse Menge Nährstoffe, die für jeden Menschen wichtig sind, dazu gehören B12 (das sehr oft in Fleisch enthalten ist, aber ansonsten bei veganer Ernährung fehlt), Jod (von grosser Bedeutung für die Regulierung der Schilddrüse), Ballaststoffe (wichtig für die Regulierung der Verdauung und die Darmgesundheit im Allgemeinen) und Eiweiss. Doch am beeindruckendsten ist die Tatsache, dass bestimmte Algenarten reich an Omega-3-Fetten sind, die normalerweise in fettreichen Fischen wie Lachs oder Makrele vorkommen. Aber klar, das ist so, weil Omega-3-Fettsäuren eben nicht von den Fischen her stammen, sondern von den Algen, die die Fische essen.

Doch wenn man eins der nahrhaftesten Lebensmittel (befrage mal Japaner zu dem Thema) der Welt einfach nur auf seine reinen Nährstoffe reduziert – wenn man also das tut, was der Autor Michael Pollan „Nutritionismus”, Nährstoffdenken, nennt, übersieht man vermutlich die Tatsache, dass Algen schon immer zur traditionellen Ernährung in den meisten Teilen der Erde gehören. Und das schliesst bis vor einiger Zeit auch Europa mit ein.

Obwohl Algen heute keine bedeutende Rolle mehr in den meisten nationalen europäischen Küchen spielen, waren sie doch einmal ein wichtiger Grundstoff der Ernährung. Archäologische Untersuchungen von Zahnstein oder Zahnbelag an über 8‘000 Jahre alten menschlichen Skeletten haben gezeigt, dass Algen und in den im Landesinneren gelegenen Regionen Lilien und Laichkraut, in ganz Europa bis weit ins Mittelalter hinein regelmässig verspeist wurden.

Im Anschluss daran galten Algen wie heutzutage auch der hochgeschätzte Grünkohl als „Arme-Leute-Essen“, das man nur dann zu sich nahm, wenn es nichts anderes zu essen gab. Und was man an Tiere verfütterte. In landwirtschaftlichen Gegenden weidete man Pferde, Kühe und Schafe jedoch mit Algen – und genau da findet sich heute eine weitere vielversprechende Verwendung.

Studien haben nachgewiesen, dass eine Zufütterung von Algen die Methanemissionen von Kühen um bis zu 80 % reduziert – sie rülpsen und furzen immer noch, aber es bildet sich kein Methangas mehr dabei. In Anbetracht von Forschungsergebnissen, die zeigen, dass die landwirtschaftliche Haltung von Wiederkäuern zum grossen Teil für Methanemissionen verantwortlich ist, könnte dies eine gute Alternative für eine nachhaltigere Lebensmittelproduktion sein.

Selbst wenn all diese Fakten überzeugen, der europäische Algen-Aquakultursektor steckt immer noch in den Kinderschuhen. China und Indonesien allein produzieren 90 % der weltweiten Meeresalgen, während Europa nur 1 % beiträgt. Damit diese Werte sich vergrössern können, müssen Algenhersteller sich einen Platz in den relativ überfüllten maritimen Wirtschaftszweigen wie Fischerei, Windparks, Schifffahrt und Tourismus erobern.

Vor allem aber muss diese Branche die Menschen von ihrer Bedeutung überzeugen. Zunächst davon, dass Algen – ebenso wie in Asien – es verdienen, ein Grundnahrungsmittel der europäischen Küchen zu sein und zweitens von der Vorstellung, dass Algenfarmen, wenn sie richtig bewirtschaftet werden, eine nachhaltige Gelegenheit für Küstenkommunen darstellen, die ihnen besonders als alternative Industrie für traditionelle Fischerei, die von den Auswirkungen der Überfischung und der Erderwärmung betroffen ist, wirtschaftliche Vorteile bieten.

Doch ebenso wie der Ausdruck „Superfood“ selbst, so sollte auch das Vorhaben des europäischen Algenfarmens mit einer gewissen Zurückhaltung betrachtet werden, denn es mag sein, dass es nur ein weiteres Szenario auf der Suche nach der Zukunft der Landwirtschaft Ist. Doch durch den nachhaltigen Aufbau von Algenzuchten von Irland bis Finnland würde Europa in die Fusstapfen nicht allein Asiens treten, sondern auch an die eigene Vergangenheit anknüpfen – denn unsere Vorfahren wussten sehr genau, dass Algen ihren festen Platz auf dem Tisch verdienen.

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