Alte Zivilisationen kannten das Goldene- und das Silberne Zeitalter und unser 20. Jahrhundert hat man das Beton-Zeitalter genannt. Wird das 21. Jahrhundert als neue Steinzeit in Erinnerung bleiben?
Es gibt mutige Bauherren, die auf eine solche Entwicklung hoffen, denn auf der Suche nach dem Baumaterial der Zukunft blickten sie zurück in die Vergangenheit und entdeckten den Stein. Wir assoziieren Stein vielleicht noch mit monumentalen Tempeln aus längst vergangenen Tagen, aber heute werden längst Bürogebäude und Apartmentblöcke aus Stein gebaut. Schon unsere Vorfahren wussten, Stein gibt es überall und er ist dauerhaft und feuerfest. Und wir wissen heute, wenn Stein verantwortungsvoll abgebaut wird, ist er sehr viel weniger emissionsintensiv als Beton.
Giles Perraudin ist ein Architekt, der massgeblich an der neuen Renaissance von Stein beteiligt ist. Sein Architekturbüro Perraudin Architecture hat sich für den Bau des sozialen Wohnungsbauprojekts Les Sciers mit dem Schweizer Architekturbüro Architect zusammengetan, gemeinsam wird man in Plan-les-Ouates ausserhalb von Genf 200 Wohnungen bauen. Die nüchternen und einfachen aber eleganten Gebäude sind Teil einer gemischten Wohnanlage mit über 700 Häusern. Diese Bauten folgen dem vielseits gerühmten Perraudin Projekt in Toulouse, das mit 40 cm dicken Steinplatten gebaut wurde und mit dem Perraudin unter Beweis stellt, dass sozialer Wohnungsbau sowohl den hohen Umweltanforderungen genügen als auch gleichzeitig ästhetisch ansprechend sein kann.
In London engagieren sich Amin Taha Architects und GROUPWORK gemeinsam für die Vorteile von Stein als Baumaterial. Ihr wunderschönes, sechsgeschossiges, gemischt genutztes Steingebäude 15 Clerkenwell Close wurde von dem im 11. Jahrhundert aus Kalkstein erbauten normannischen Kloster inspiriert, das ehemals an genau dieser Stelle stand. Anstatt aber energieintensiv veredelte Steine zu verwenden, wurden bei 15 Clerkenwell Close – in dem sich auch Tahas Büro befindet – roh geschnittene, unbehandelte Steinplatten verbaut. Seinen Berechnungen zufolge beliefen sich die Kosten auf ein Viertel dessen, was ein Gebäude aus Beton gekostet hätte. Zurzeit hat man ein weiteres, noch ehrgeizigeres Gebäude im Bau, ein zehnstöckiges Wohnhaus mit tragenden Steinwänden. Es wird das erste Gebäude dieser Art seit der Ära des mittelalterlichen Kathedralenbaus.
Es versteht sich natürlich, dass während der vergangenen Jahrhunderte immer wieder mit Steinen gebaut worden ist, auch für moderne Tempel wie die Schweizer San Giovanni Battista-Kirche und die Sancaklar Moschee in der Türkei. In den vergangenen Jahrzehnten fand Stein allerdings hauptsächlich Verwendung für dekorative Fassaden. Doch gerade erlebt Stein eine Renaissance, was zum Grossteil auf seine relative Nachhaltigkeit zurückzuführen ist.
Vor allem ist Stein eine reichlich vorhandene natürliche Ressource – man kann davon ausgehen, dass es auf unserem 6,6 Sextillion Tonnen schweren Felsen, dem dritten von der Sonne aus gesehen, dem, auf dem wir alle durch das All kreisen, die am meisten vorhandene Ressource ist. Steinbrüche verursachen kaum Umweltschäden. Die grösste Umweltbelastung hängt mit der Veredlung und dem Transport zusammen und damit verbrauchen Gebäude, die aus vor Ort, also in einem Umkreis von etwa 200 km abgebautem, unbearbeitetem Stein errichtet werden für den Bau sehr viel weniger Energie, als eine entsprechende Betonkonstruktion. Und überdies können Steine aus einem Gebäude im Gegensatz zu Beton endlos und mit geringstem Aufwand recycelt werden. Auch wenn man ihn umhaut, Stein bleibt immer Stein!
Das wirft selbstverständlich die Frage auf, warum nicht mehr Gebäude aus Stein errichtet werden. Zum einen ist die Verbauung von Steinen für tragende Wände oder Gebäudeteile eine verloren gegangene Kunst und das nicht nur für Architekten und Ingenieure, sondern auch für die Steinbrüche. Wie bei jedem natürlichen Baumaterial gibt es grosse Unterschiede in der Qualität und der Nutzbarkeit des Produkts, darum müssen Gesetzgebung und Vorgaben auf den neusten Stand gebracht werden, damit alle Beteiligten auf ihre Fähigkeit vertrauen können, Stein für einen Bau zu verwenden. Und schliesslich, wie es Amin Taha erleben musste, als ein örtliches Bauamt sein Bürogebäude abreissen lassen wollte, weil es nicht mit den starren Vorstellungen von akzeptierten Bauweisen übereinstimmte, müssen örtliche Verfügungen flexibler werden, um die radikale Anwendung eines „neuen“ Baumaterials wie Stein zuzulassen.
Wird Stein das antike Baumaterial für das neue Jahrtausend? Perraudin, Taha und andere haben stichhaltige Argumente für seine ökologischen und ästhetischen Vorzüge geliefert. Der Rest wird sich mit der Zeit zeigen.