Es ist gar nicht so lange her, dass man uns die Neandertaler als behaarte, dumme und schlampige tierische Bestien beschrieben hat. Eine Reihe erstaunlicher neuer Entdeckungen und verblüffender Darstellungen zeigen uns aber, dass unsere Cousins aus der Steinzeit vielleicht genauso menschlich waren wie wir heute.
Seit der Entdeckung des ersten Schädels mit seinen wulstigen Brauen im Jahr 1856 im deutschen Neandertal, stellt sich der Homo sapiens unsere neandertaler Vettern gern als kleine Monster vor. Mit der Entdeckung und der Rekonstruktion des 60.000 Jahre alten Neandertaler-Skeletts in La Chapelle-aux-Saints in Frankreich verfestigte sich dieses Bild im frühen 20. Jahrhundert. Durch die Rekonstruktion des Wissenschaftlers Pierre Marcellin Boule und das daraus resultierende Gemälde von František Kupka in der französischen Zeitschrift L’Illustration bekam der Neandertaler den Spitznamen „Der alte Mann“ und wurde mit seiner gebeugten Haltung, seinem dicken Hals und vorstehenden Kopf, behaart wie er war und ausgestattet mit einem affenähnlichen grossen Zeh gleichzeitig zum Alptraum für Kinder. Dank dieser Darstellung galt der Neandertaler als dumm, gefährlich und wegen seiner offensichtlichen Minderwertigkeit zu Recht als ausgestorben.
Doch wie so oft in der Wissenschaft erwies sich alles als unrichtig, was man bisher zu wissen glaubte. Es beginnt schon mit seinem Spitznamen „Der alte Mann“ und dann der affenähnliche dicke Zeh, der nichts anderes war als eine Erfindung Boules, der fest davon überzeugt war, Neandertaler wären nicht viel anders als Affen und hätten keinerlei Verwandtschaft mit dem Homo sapiens. Überdies fand man schon in den 1950er Jahren heraus, dass die gebeugte Haltung des alten Mannes kein Charakteristikum der Neandertaler allgemein war, sondern das Merkmal dieses bestimmten Neandertalers als Folge einer genetischen Knochendeformation. Zwar gibt es tatsächliche Unterschiede in der Knochenstruktur, und der Neandertaler hatte tatsächlich einen grösseren Schädel und im Verhältnis zu seiner Grösse stämmigere Gliedmassen als wir sie haben, aber höchstwahrscheinlich wies er ebenso viele verschiedene Körperformen auf wie der Homo sapiens.
Vermutlich auch genauso viel Sapiens, denn es liegen Beweise dafür vor, dass die Neandertaler wussten, wie man Werkzeuge fertigt, ein Feuer macht und es benutzt, wie man webt und Kleidung herstellt. Grosstiere wie riesige Mammuts, Steinböcke, Pferde und Bisons jagten sie in der Gemeinschaft, sie verarbeiteten ihre Nahrung, indem sie sie räucherten, rösteten oder kochten und sie zerkleinerten Samen und machten daraus so etwas wie Fladenbrot. Sie kümmerten sich um die Kranken und beerdigten ihre Toten. Ausserdem gefiel es ihnen, sich herauszuputzen, sie durchbohrten die Zähne von Höhlenbären und man geht davon aus, dass sie als Schmuck getragen wurden. Möglicherweise folgten sie auch höheren Gedankengängen, denn eine Reihe von Höhlenmalereien in Spanien wurden unlängst auf mehr als 65.000 Jahre datiert, was bedeuten würde, dass sie von Neandertalern geschaffen wurden, da der Homo sapiens erst 20.000 Jahre später in Europa auftauchen sollte. Die Neandertaler waren also weit davon entfernt, wilde Monster zu sein, sie kochten, jagten, sie richteten sich ein und lebten mehr oder weniger fast wie wir.
Tatsächlich waren sie dem Homo sapiens so ähnlich, dass es über die paar tausend Jahre, in denen sie zusammenlebten, eine grosse Menge an Kreuzungen zwischen ihnen gab. Neuste Gensequenzierungen haben gezeigt, dass wir als moderne Homo sapiens besonders in der nördlichen Hemisphäre, dem Neandertaler etwa 1-4 Prozent unseres Genoms verdanken. Es ist nicht bekannt, was vorzeitliche Menschen und Neandertaler voneinander hielten und ob diese frühen Paarungen ein Zeichen von Liebe oder von Gewalt waren, aber der Umstand allein verweist eindeutig auf ein ähnliches Identitätsgefühl. Eine gängige Definition von „Art“ besagt, dass zwei verschiedene Arten keine fruchtbaren Nachfahren hervorbringen können (denken wir zum Beispiel an die Paarung eines Pferds mit einem Esel, aus der ein steriles Maultier hervorgeht), doch heute sind Wissenschaftler gezwungen zu überdenken, ob homo sapiens und homo neanderthalensis tatsächlich zwei verschiedenen Arten angehören.
All das mag der Grund dafür sein, warum diese erstaunliche, neue Darstellung der Neandertaler sich so schnell auf der Welt verbreitet. Adrie und Alfons Kennis, beide Künstler und überdies Zwillingsbrüder, haben dem homo neanderthalensis ein vollkommen neues Aussehen gegeben. Ob sie nun an zwei Skeletten arbeiten, die in einer Höhle in Gibraltar gefunden wurden und denen man die Spitznamen Nana and Flint gegeben hat, oder an ähnlichen Überresten, die ihnen von Museen in Wales, Italien, Kanada oder den Niederlanden in Auftrag gegeben wurden, die Gebrüder Kennis haben den Neandertaler für eine heutige Generation zu neuem Leben erweckt und zeigen ihn mit breitem Lächeln, strahlenden Augen und schlanken nackten Körpern. Die Rekonstruktionen der Kennis‘ gehen weit über einfache Anatomie hinaus, sie bringen Zuneigung, Beziehungen, Intelligenz und Menschlichkeit zum Vorschein.
Obwohl sie vor 40.000 Jahren ausgestorben sind, werden unsere einst so blassen Cousins aus der Steinzeit immer heller und klarer und vor allem kommen sie uns immer näher.