Wir schreiben das Jahr 1935. Die US Army Air Corp testet den Prototyp des Boing-Langstreckenbombers Model 299. Mit einer erfahrenen Besatzung an Bord donnert das viermotorige Flugzeug in den Himmel über Wright Field, Ohio. Doch in ihrem Steigflug kommt die Maschine nicht in eine stabile Lage, die Nase bleibt oben und zeigt immer weiter nach oben, und der Pilot kann nichts tun, um sie zu stabilisieren. Dann plötzlich, in einer Höhe von etwa 100 Metern beginnen alle vier Triebwerke zu stottern und nur Sekunden später stürzt das Flugzeug ab und geht in Flammen auf.
Was war das Problem? Pilotenversagen! Zu seiner Zeit war der Prototyp des Models 299 ein Wunderwerk an Komplexität, das seiner Besatzung eine Reihe von Kontrollfunktionen und technischen Elementen bot, wie man sie zu dieser Zeit noch nie in einem Flugzeug gesehen hatte. Doch als der Pilot aus Stress oder weil er vielleicht in zu grosser Eile war, vergass, eine neue Sperre am Seitenruder zu lösen, kam es zum tödlichen Unglück – bei dem Absturz kamen er und ein weiteres Mitglied seiner fünfköpfigen Besatzung ums Leben. In einem Zeitungsartikel über den Absturz hiess es damals, diese komplizierte Boing-Maschine sei „eine Nummer zu gross für einen Mann, um sie zu fliegen.“
Aber das stimmte nicht. Schon kurze Zeit später wurde das Flugzeug als B-17 Flying Fortress, als fliegende Festung, in grosser Zahl von der Army übernommen und kam im 2. Weltkrieg pausenlos zum Einsatz. Um dieses komplizierte Flugzeug für abertausende Besatzungsmitglieder in Tausenden von Flugzeugen, die Milliarden und Abermilliarden von Flugmeilen zurücklegten, handhabbar zu machen, fand die Army Air Corp eine einfache Lösung: die Checkliste.
Noch heute ist die Checkliste ein wesentlicher Teil für die Sicherheit der Luftfahrt. Marek Tybi, Pilot und Trainer bei easyJet am Mailänder Flughafen Malpensa erklärt, dass es für den Airbus a320 für den ganz „normalen“ Ablauf acht verschiedene Checklisten gebe: Vorbereitung des Cockpits, vor und nach dem Starten der Triebwerke, wenn das Flugzeug rollt, vor dem Start, beim Landeanflug, bei der Landung und dem Parken am Gate. Ein erfahrener Pilot kann alle notwendigen und anfallenden Aufgaben aus dem Gedächtnis erledigen, aber beide diensttuenden Piloten arbeiten gemeinsam am Check, prüfen jeden einzelnen Punkt und haken ihn auf ihrer Liste ab.
Mit anderen Worten, ein guter Pilot handelt nicht nur aus dem Bauch heraus oder weil er ein gutes Gedächtnis hat. „Als Pilot bekommt man ganz klare Vorgaben,“ sagt Marek, „und es macht einen guten Piloten aus, diese Vorgaben immer klar umzusetzen.“ Das Ziel ist es, fehlerfrei zu sein, „und Checklisten machen jeden Ablauf einfacher.“
Über die Jahre wuchsen die internationalen Fluggesellschaften in enormen Dimensionen, erklärt Marek weiter, und in der kommerziellen Luftfahrt sind Checklisten heute ein integraler Bestandteil der Verschärfung der Sicherheitsvorschriften überall auf der Welt.
„In einem kleinen Unternehmen mit zwei oder sogar mit zehn Flugzeugen kennt jeder jeden und jeder weiss, wo die Stärken und die Schwächen der KollegInnen liegen. Sieht man sich aber easyJet, Ryanair oder Delta an, hat man es mit Tausenden von Piloten und Pilotinnen zu tun. Die meisten fliegen gemeinsam eine Maschine, haben sich aber vorher noch nie gesehen und werden sich mit grosser Wahrscheinlichkeit nie wieder sehen, aber von allen wird erwartet, dass sie auf die genau gleiche Weise fliegen. Und dafür sind eindeutige Standardarbeitsanweisungen unerlässlich.“
Mit dem Wachstum der Industrie nahm ähnlich wie bei der Umstellung auf den B-17 in den 1930er Jahren, auch die Komplexität der Flugzeuge ständig zu. Heute können Bordcomputersysteme ein Flugzeug für die Dauer des Flugs vom Start bis zur Landung fliegen. Schon bald können sie wahrscheinlich die Anzahl der diensthabenden Piloten auf Langstreckenflügen auf einen einzigen reduzieren – kann sein auf gar keinen. Diese Systeme haben das Flugzeug und das Fliegen sehr viel sicherer und zuverlässiger gemacht als je zuvor. Gleichzeitig sind sie aber auch so komplex geworden, dass es immer schwerer wird, genau zu bestimmen, wo ein Fehler auftreten könnte.
Darum, erklärt Marek weiter, habe er in den 23 Jahren als Pilot einen grundsätzlichen Wandel in der Ausbildung erlebt. „Früher konzentrierten wir uns darauf, wie man sich in einem bestimmten Notfall verhalten soll, wie man zum Beispiel eine Maschine mit nur einem Triebwerk oder wie man sie unter schwierigen Wetterbedingungen fliegen soll.“ Nach wie vor, sagt er, brauche ein Pilot technisches Knowhow und überdies die Beherrschung der Automatisierungssysteme, aber der Schwerpunkt der Ausbildung liege heute auf der Entwicklung und der Prüfung wichtiger Kompetenzen, und die konzentrieren sich darauf, jede Art von Notfall bestmöglich zu bewältigen.
„Führungsqualitäten, Kommunikation und Teamarbeit sind die drei Aspekte, auf die wir uns besonders konzentrieren. Ausserdem braucht man ein gutes Situationsbewusstsein, denn so kann man sich mögliche Risiken und Fehler aus jeder Perspektive vorstellen. Nur so gelingt es, im Team festzulegen, welches Vorgehen das sicherste und beste ist.“ Dies ist ein vollkommen strukturierter Ansatz bei der Problemlösung und er stützt sich nach wie vor auf ein einfaches Werkzeug: die nicht-normal Checkliste.
Der Name sagt alles, diese Checklisten, die in Zusammenarbeit mit den Herstellungsfirmen, Betreibern und Aufsichtsbehörden entstanden, helfen Piloten dabei, atypische Situationen zu beurteilen und entsprechend darauf zu reagieren. Sie tragen dazu bei, menschliches Versagen zu reduzieren und gleichzeitig stärken sie die kritischen menschlichen Kompetenzen, die Marek unterrichtet.
Die Luftfahrt ist heute „sehr, sehr sicher“, beteuert Marek, aber er gesteht, wenn er von Lissabon, London oder Reykjavik zurück in seine tschechische Heimat nach Prag fliege, mache ihn nur eine Sache ein bisschen nervös, „die Autofahrt vom Flughafen nach Hause.“
Fast 90 Jahre nach der Tragödie auf einem Flugfeld in Ohio verdanken Marek und jeder andere Mensch, der ein Flugzeug steuert, ihr Gefühl von Sicherheit einer einfachen Checkliste.