Du stehst auf dem Gipfel des Mont Blanc. Deine Beine bibbern im Schnee, deine Nase und deine Ohren sind rot und in deinen Augen hast du Tränen. Staunend schaust du in den Himmel. „Mensch, ist das blau!“, ruft deine Begleitung voller Begeisterung. Und es stimmt, der Himmel ist von einem so tiefen Blau, wie du es noch nie zuvor gesehen hast – er ist fast schwarz. Es ist das Blau Nummer 1 auf dem Cyanometer, das du erfunden hast. Du bist der erste Mensch, der je die Bläue, des Himmels wissenschaftlich gemessen hat.
Im Jahr 1787 und nach mehr als zehn Jahren, in denen er es immer wieder versucht hatte, gelang es Horace Bénédict de Saussure den Gipfel des Mont Blanc zu erreichen. Er war nicht der Erste, denn schon zwei Jahre zuvor hatten es zwei Männer aus Chamonix bis an die Spitze geschafft. Aber das sollte nicht überraschen, denn schon 1760 hatte der enthusiastische Genfer Wissenschaftler und Alpinist im Alter von 20 Jahren denjenigen eine Belohnung versprochen, die eine Route bis hinauf zum Gipfel finden würden. Die guten Leute aus Chamonix haben ihn nicht enttäuscht. Aber trotz all dem war Saussure nicht weniger erstaunt über die Farbe, die er auf seinem Instrument ausmachte.
Messungen begeisterten Saussure. Wohin er auch kam und auf jeden Berg, den er bestieg, brachte er all seine Instrumente mit: Thermometer und Barometer, seinen Hygrometer zur Messung der Luftfeuchtigkeit, den Anemometer für die Windgeschwindigkeit und den Bergeudiometer zur Bestimmung des Gasvolumens – viele dieser Geräte erfand er selbst oder verbesserte die, die es schon gab. Und auf den Gipfel des Mont Blanc nahm Saussure eine weitere seiner Erfindungen mit, seinen Cyanometer, wie er ihn nannte, er diente zur Bestimmung der Bläue des Himmels.
Die erste Version dieses Geräts, das Saussure mit auf den Gipfel nahm, war ein einfaches Stück Karton mit drei Spalten mit Farbproben, von denen jede Spalte alternierend verschiedene Blautöne (insgesamt 16) und Weiss aufwies. Man kann diese Karte noch heute im Musée d’histoire des sciences in Saussures Heimatstadt Genf sehen. Der Karton vergilbte mit der Zeit, und die Farben verblassten zu einer Palette verschiedener Grautöne, was allerdings immer noch klar zu erkennen ist, sind die dunkelsten, die fast schwarzen Schattierungen von Blau, darunter das Blau Nummer 1, das Saussure, mit dem Himmel auf dem Gipfel des Mont Blanc abglich.
Ein Jahr später verbrachte Saussure mit seinem Sohn Nicholas-Théodore 17 Tage auf dem Col du Geant, etwa 1000 m unterhalb des Gipfels, und testete hier die zweite Version seines Cyanometers. Es ist die berühmtere Version, und es überrascht nicht, dass man sie auch heute noch im Museum und überall im Internet sehen kann. Die Pappscheibe mit ihren 53 Farben ist immer noch auffallend lebendig und wunderschön. Eingefärbt mit Preussischblau, dem ersten synthetischen Farbpigment, das ebenfalls in Saussures Jahrhundert erfunden wurde, reicht diese erweiterte Farbpalette von Weiss mit der Bezeichnung 0 bis zu demselben sehr dunklen Blau, das jetzt die Nummer 52 statt der 1 trägt, und das Saussure oben auf dem Gipfel gemessen hatte.
Heute wird der Cyanometer nicht mehr verwendet, ebenso wenig wie Lackmuspapier zur Messung von PH-Werten, aber beides waren praktische Werkzeuge für empirische Messungen, mit deren Hilfe man ein besseres Verständnis von veränderlichen Naturphänomenen gewinnen konnte. Durch simultane Vergleichstests, die von seinem Sohn und einem Kollegen in Chamonix und Genf durchgeführt wurden, kam Saussure zu dem Schluss, dass das, was den Himmel heller und nicht dunkler als oben auf dem Mont Blanc machte, auf die verstärkte Dichte von Partikeln in der Luft zurückzuführen war.
Heute gibt Pantone Farbfächer mit Hunderten von Blautönen heraus, wie zum Beispiel PMS 5493C. Saussure hatte sich mit weitaus weniger Schattierungen zufriedengegeben – zuerst waren es 16, dann 52 – um das Blau zu bestimmen, an dem ihm am meisten gelegen war: dem Blau über seinen geliebten Schweizer Alpen.
➝ OPEN LINK
http://institutions.ville-geneve.ch/fr/mhn/votre-visite/musee-dhistoire-des-sciences/