Vor langer, langer Zeit sagte man, Bücher ruinieren die Sehkraft. Dann war es das Fernsehen. Danach kamen Computer und Videospiele. Schliesslich Tablets. Und jetzt sind es die Smartphones. Alle haben sich geirrt und hatten trotzdem irgendwie Recht.
Falls du seit einiger Zeit keine Nachrichten mehr gesehen hast, wir befinden uns mitten in einer globalen Myopie-Epidemie. Myopie – auch bekannt unter dem Namen Kurzsichtigkeit – ist eine Veränderung der Form der Augäpfel, die dazu führt, dass entfernte Gegenstände verschwommen wahrgenommen werden. Diese Unschärfe kann mit einer Brille oder durch Kontaktlinsen ausgeglichen werden, jedoch können beide die zugrunde liegende Verformung des Augapfels nicht korrigieren. Myopie beginnt in der Kindheit, wenn sich die Augäpfel ausbilden. Abhängig vom Grad der Kursichtigkeit kann es im späteren Leben zu erhöhten Risiken von Schäden wie Netzhautablösung, Grauem Star, Grünem Star oder Glaukom bis hin zum unheilbaren Verlust des Augenlichts kommen.
In Europa leiden heute circa 50 % aller Jugendlichen unter Kurzsichtigkeit. In Ostasien sind die Zahlen noch bestürzender, dem Wissenschaftsjournal Nature nach, sind in China und Taiwan etwa 90 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen kurzsichtig und in Seoul, der Hauptstadt Südkoreas, sind es fast 95 %. Und die Tendenz ist steigend.
Schon seit langem sucht man nach den Ursachen der Myopie. Vor fast vier Jahrhunderten gab der deutsche Wissenschaftler Johannes Kepler, dessen eigene Sehkraft ihn langsam verliess, seinen Büchern die Schuld an seiner Kurzsichtigkeit. Das war nicht unbedingt falsch, denn abgesehen von der Tatsache, dass er ein anerkannter Astronom war, schrieb Kepler das grundlegende Buch über die Optik, und sein 1604 verfasstes Astronomiae Pars Optica gilt auch heute noch als Basis für die moderne Wissenschaft.
Keplers Theorie der Kurzsichtigkeit gilt immer noch als richtunggebend, denn es scheint, dass sich überall dort, wo sich die Lektüre von Büchern ausgebreitet oder intensiviert hat, auch die Myopie in ähnlichem Umfang angestiegen ist. In den 1960er Jahren, als sich die traditionelle Lebensart der Inuit in Alaska sehr schnell veränderte, kam es dort auch zu einem rasanten Anstieg der Myopie. In Israel haben Jeshiwa Schüler, die sich über Jahre mit dem Studium religiöser Texte beschäftigen, eine weit höhere Myopie-Rate als die Restbevölkerung. Und überall in Ostasien, wo Schulbildung und strenge Prüfungsordnungen den Motor der Nachkriegswirtschaft darstellen, ist Kurzsichtigkeit geradezu explodiert.
Es ist also gut möglich, dass deine Urgrossmutter genau wie davor Kepler gar nicht so falsch lag, als sie den Büchern die ganze Schuld zuschoben. Du machst dir die Augen kaputt! hat sie vermutlich gerufen. Jüngere Generationen gaben dann dem Fernsehen, dem Computer oder dem Smartphone die Schuld. Sie irren sich alle … und liegen gleichzeitig gar nicht so weit daneben.
Dank der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema ist das Bild sehr viel klarer geworden. Es sind weder die Bücher noch die Monitore, die das Problem verursachen, es ist ein Mangel an Sonnenlicht. Wohin man schaut, gibt es ein umgekehrtes Verhältnis von Kurzsichtigkeit und der Zeit, die im Freien verbracht wird. Die aktuelle These besagt, dass Tageslicht, das auch bei bewölktem Himmel 20mal heller ist, als ein gut beleuchtetes Klassenzimmer, bei Kindern die Dopamin-Produktion der Netzhaut stimuliert, und es ist das Hormon Dopamin, das dem Augapfel im Wesentlichen zeigt, dass er kugelförmig bleiben und sich nicht länglich verwachsen soll. In Taiwan verzeichnete man vorübergehend Erfolge, den Trend umzukehren, als man mit öffentlichen Kampagnen dazu drängte, junge Kinder sollten täglich mindestens zwei Stunden im Freien verbringen – allerdings galt das nur bis zum Ausbruch von Covid, als strenge Lockdowns die Menschen zwangen, im Haus zu bleiben.
Obwohl also deine Urgrossmutter den Schuldigen nicht so recht im Blick hatte – die Rolle des Tageslichts bei der Verhinderung der Myopie ist erst seit Kurzem ins Zentrum moderner Wissenschaft gerückt -, hätte sie trotzdem genau gewusst, was man den Kindern des 21. Jahrhunderts verschreiben sollte: Runter vom Sofa, weg vom Bildschirm, geh raus und spiel!
Klarer hätte diese Lösung nicht formuliert sein können.