Im Jahr 1758 tobte der Siebenjährige Krieg zwischen den beiden Grossmächten Frankreich und England. Aus der Heimat schrieben Verliebte, Mütter und Freunde an die Männer, die in den entfernt gelegenen amerikanischen Kolonien, in Afrika oder in Indien im Kriegsdienst standen. Es gab dann diesen einen Fall, als ein Packen Briefe 265 Jahre darauf warten musste, geöffnet zu werden.
Dieses so spät gefundene Schriftgut wurde unlängst von dem Cambridge Professor Renaud Morieux veröffentlicht. Der Wissenschaftler fand das Konvolut durch Zufall in den Archiven und liess die Briefe aus reiner Neugier öffnen. Was er fand, verblüffte ihn und die Welt.
Die im eigentümlichen Französisch des 18. Jahrhunderts verfassten Briefe waren ausnahmslos an Mitglieder der Mannschaft der Galatée adressiert, ein französisches Kriegsschiff, das im Jahr 1758 auf dem Weg nach Quebec gekapert wurde. Die Briefe an die Besatzung, geschrieben von Geliebten, von Familie und Freunden in der Heimat, folgten dem Schiff von Hafen zu Hafen, erreichten es jedoch nie, weil es immer schon wieder in See gestochen war, wenn die Briefe im jeweiligen Hafen ankamen. Als die Galatée dann erbeutet, und das Schiff und seine 181 Mann starke Besatzung unter Waffengewalt nach Portsmouth in England verbracht worden waren, leitete die französische Postverwaltung alle Briefe in der Hoffnung nach England weiter, sie würden die Gefangenen dort erreichen. Jedoch vergebens.
Anstatt die Briefe der gefangenen Mannschaft zu übergeben, wurden sie von der British Royal Admiralität beschlagnahmt. Laut Professor Morieux scheint es, als wären zwei der Briefe geöffnet und gelesen worden. Als man dabei feststellte, dass sie keine nennenswerten militärischen Informationen enthielten, wurden sie in eine Kiste gepackt und endeten in einem Lager, wo sie 265 Jahre darauf warten mussten, wieder ans Tageslicht gefördert zu werden.
Da viele der Briefe von Frauen der Arbeiterklasse, also ärmeren Familien stammten, geht Professor Morieux davon aus, dass sie von Schreibern verfasst wurden, vermutlich gebildeten Bekannten, die die Wünsche, Sorgen und Neuigkeiten zu Papier bringen konnten, die ihnen die Angehörigen der Besatzungsmitglieder diktierten – das geschah allerdings bisweilen in recht unorthodoxer Rechtschreibung und Zeichensetzung.
Die übermittelten Gefühle sind nur allzu gut bekannt: Sag etwas Nettes über deinen Vater! forderte eine Mutter. Du schreibst überhaupt nicht mehr! beschwerte sich eine andere über ihren Sohn. Schreib deiner Mutter! drängte die Verlobte desselben Seemanns, die zweifellos eine gehörige Portion Schuldgefühle von ihrer zukünftigen Schwiegermutter aufgebürdet bekommen hatte. Ich kann es kaum erwarten, dich wieder in die Arne zu schliessen! schrieb eine Frau namens Anne ihrem Ehemann, bevor sie sich mit den Worten: deine gehorsame Frau Nanette von ihm verabschiedete.
Trotz des einerseits sehr persönlichen Charakters der Briefe, zeigen sie auf der anderen Seite, in welchem Masse Schreiben zu jener Zeit ein öffentlicher Akt, ja sogar ein gemeinschaftliches Ereignis war. Menschen, die nicht schreiben und lesen konnten, mussten sich an einen Schreiber wenden und also ihre privaten Gefühle laut aussprechen, bevor sie ihnen nach der Niederschrift abermals laut vorgelesen wurden. Jeder der Briefe war vollgepackt mit Text, dazu kamen Nachrichten von anderen Familienmitgliedern, manchmal auch an andere Besatzungsmitglieder, die auf den Rand geschrieben worden waren. Diese Briefe verdeutlichen uns, wie wertvoll die schriftliche Kommunikation für die Übermittlung von Gedanken über Zeit und Raum ist, und wie stark diese Fähigkeit von der Familie, der Schule und ganz allgemein von der Gesellschaft abhängig ist, die jeder Generation das Schreiben beibringt.
Diese handgeschriebenen Briefe sind darüber hinaus ein kostbares Zeugnis all jener, die den Krieg nicht überlebt haben. Und obwohl die meisten der gefangen genommenen Seeleute nach dem Krieg in die Heimat zurückkehrten – Professor Morieux verfolgte alle Namen und die Berufe jedes einzelnen Besatzungsmitglieds zurück und erstellte Stammbäume für seinen Artikel in Annales. Histoire, Sciences Sociales – kam Leutnant Louis Chambrelan nach Hause und erfuhr, dass seine Frau in den Jahren seiner Gefangenschaft verstorben war. Und doch, Marie Dubosc wird dank der Worte, die sie zu Papier bringen liess, ewig leben.