In der nördlichen Hemisphäre ist der Frühling angekommen, die Bäume schlagen aus, die Blumen blühen und die Pflanzen treiben neue Triebe. In dieser sehr elektrischen Zeit des Jahres ist es nur natürlich zu glauben, wir wären genau aus diesem Stoff gemacht. Und darum denken wir, schade um die Winterpause. Der Frühling indes überzeugt uns davon, dass unser natürlicher Zustand der des Wachsens ist.
Es ist ein verführerischer Gedanke – aber er ist leider falsch. Jedes Lebewesen hat seine Grenzen. Wir sind erfreut über das Wachstum eines Kindes („Mein Gott, was bist du gross geworden!“), aber ein Erwachsener, der nicht aufhören würde zu wachsen, müsste unter dem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Wenn Pflanzen- oder Tierpopulationen immer weiter wachsen, so liegt es meist daran, dass sie nicht mehr im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung leben, an Organismen, deren natürliche Feinde verschwunden sind, an invasiven Arten wie Kudzu und Zebramuscheln oder auch an gestörten Krebszellen. Wachstum ist gut und notwendig, aber zum Wohl des Organismus muss es auch zu einem Ende kommen.
Doch wie schon der deutsche Wirtschaftswissenschaftler E.F. Schumacher 1973 in seinem Buch Small is beautiful: Die Rückkehr zum menschlichen Mass argumentierte, die Menschheit leidet unter der Tendenz, sich als ausserhalb der Natur stehend zu betrachten. Ausserhalb ihrer Gesetze. Genau darum beginnen unsere Augen zu leuchten, wenn wir von unbegrenztem Wachstum sprechen. Von einer Wirtschaft, die keine Grenzen kennt und globalen Mega-Unternehmen, die den gesamten Erdball umspannen. Wir wollen Wachstum ohne Grenzen – und auch ohne Konsequenzen.
Konsequenzen hat es jedoch schon immer gegeben. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts erklärte der österreichische Ökonom Leopold Kohr, die Probleme des Zweiten Weltkriegs liessen sich auf die Grösse der Kriegsparteien zurückführen. Und als andere sich für eine mächtige Europäische Union einsetzten, um der Grösse der Sowjetunion etwas entgegenzusetzen, sagte er, unsere beste Möglichkeit, Frieden zu erhalten, sei das Schweizer Modell, eine Konföderation von 22 eigenständigen Kantonen. Grösse ist das Problem: „Immer, wenn etwas nicht stimmt, ist etwas zu gross.“
Schumacher war ein Schüler von Kohr und er war nicht der Einzige, der die Idee von den Folgen der Grösse aufgriff. Rachel Carsons Buch Der stumme Frühling enthüllte die verheerenden Auswirkungen der wahllosen Verwendung landwirtschaftlicher Pestizide wie DDT auf die Vogelpopulationen. The Population Bomb (dt. Die Bevölkerungsexplosion) des Biologen Paul Erlich schockierte den Westen mit seiner Vision eines Bevölkerungswachstums, das einen „Wettlauf in die Vernichtung“ auslösen würde. Und der Club of Rome veröffentlichte den Bericht Die Grenzen des Wachstums als bittere Warnung vor der Erschöpfung der Rohstoff-Reserven. Als Schumacher im Jahr 1973 Small is beautiful publizierte, demselben Jahr wie die erste Ölkrise, war er nicht, wie vor ihm sein Lehrer, eine einsame Stimme in der Menge.
In gewissem Mass lehnte Schumacher den düsteren Ton dieser Bücher ab, indem er seinem Buch den Untertitel Die Rückkehr zum menschlichen Mass gab. Aber auch er warnte vor den schrecklichen Auswirkungen der „Gigantomanie“. Jedoch argumentierte er auf positive Weise für Unternehmen und Volkswirtschaften, sich um eine harmonische, angemessene Grösse in ihrem Verhältnis zur Umwelt zu bemühen. Überdies lehnte Schumacher den unverhältnismässigen Gebrauch entfremdender Technologien ab und sagte, Menschen seien am glücklichsten, wenn sie kreativ, nützlich und produktiv mit ihren Händen und ihrem Verstand beschäftigt seien.
Zu einer Zeit, in der wir darüber nachdenken, ob die nächste KI-App uns eventuell ersetzen könnte oder ob unsere Lieblings-Tech-Firma wirklich zu gross ist, um kaputtzugehen, erinnert uns Schumachers Buch immer noch rechtzeitig daran, eine Lektion aus der Natur zu beherzigen: Wachstum ist gut, aber klein ist schön.