Die Geschichte vom Schweizer Spaghetti-Baum

Die Schweizer sind für viele Dinge bekannt: Berge, Schokolade, Käse und Innovationen jeder Art. Im Jahr 1957 erfuhren die Briten dann, dass wir noch für etwas anderes berühmt waren: Für Spaghetti, die an Bäumen wachsen.

Am 1. April 1957 beendete die BBC die Übertragung ihres Nachrichtenprogramms Panorama mit einem Bericht, der heute als einer der besten Aprilscherze aller Zeiten gilt. In einem dreiminütigen Beitrag, der vor Ort in Castagnola am Ufer des Luganer Sees im Tessin gedreht worden war, sahen britische Fernsehzuschauer, wie eine Familie von Spaghetti-Bauern reife Spaghetti direkt von den Bäumen erntete und erklärte, die Ernte sei in diesem Jahr aussergewöhnlich gut.

Während im Fernsehen lächelnde Bauern bei der Spaghetti-Ernte zu sehen waren und wie sie die Spaghetti dann zum Trocknen auslegten, erklärte der Sprecher, dass die einheitliche Länge der  Spaghetti jahrelanger, ausdauernder Arbeit von Züchtern zu danken sei – ihnen sei endlich der Durchbruch gelungen, die perfekten Spaghetti zu züchten. Überdies, kommentierte er weiter, sei eine extrem gefährliche Rüsselkäferart, die nur Spaghetti-Bäume befalle, praktisch unschädlich gemacht worden. Der Bericht endete dann mit dem Erntefest der Bauern, das sie mit einem traditionellen Spaghetti-Gericht und Krügen voller Wein feierten.

Mit dieser Geschichte vom Spaghetti-Baum oder der Schweizer Spaghetti-Ernte, wie sie gelegentlich auch genannt wird, wurde die gesamte britische Öffentlichkeit auf den Arm genommen. Viele Menschen hielten den nüchternen, sehr professionell produzierten Beitrag, der von dem angesehenen und langjährigen Panorama-Sprecher, Richard Dimbleby, moderiert worden war, für absolut glaubhaft. Und obwohl Dimbleby die Übertragung mit den Worten schloss: „Wir verabschieden uns und sagen ‚Gute Nacht‘ an diesem ersten Tag des Aprils“, wobei er die letzten Wörter besonders stark betonte, dachte die Mehrheit der britischen Fernsehzuschauer keineswegs daran, es könnte sich um einen Scherz gehandelt haben.

Aus diesem Grund war das Programm noch kaum beendet, als schon eine Flut von Anfragen einsetzte. Den zahllosen Anrufern, die wissen wollten, wo man einen Spaghetti-Baum kaufen könne, antworteten die Mitarbeiter der BBC-Telefonzentrale: „Legen Sie einen Spaghetti-Zweig in eine Dose Tomatensauce und hoffen Sie auf das Beste.“ Und das nationale Schweizer Tourismusbüro in London erklärte geduldig, die vertikal wachsenden spaghetti verticalis, wie der lateinische Name der Art laute, seien in der Schweiz beheimatet, während die Italiener die spaghetti horizontalis bevorzugen würden.

Bedenkt man unsere eigene gegenwärtige Beschäftigung mit dem Phänomen Fake News, ist es interessant darüber nachzudenken, wie damals so viele Menschen auf einen Gag hereinfallen konnten, der aus heutiger Sicht betrachtet so offensichtlich (dabei urkomisch) falsch erscheint. Ein Grund ist zweifellos die Autorität der Quelle: Die BBC war nur einer von zwei Fernsehkanälen, die der britischen Öffentlichkeit zur Verfügung standen, und Panorama hatte eine durchschnittliche Zuschauerzahl von über 10 Millionen. Zu Zeiten, als viele Menschen noch gar keinen Fernseher besassen, verlieh die Erklärung: „Das habe ich im Fernsehen gesehen“, jeder Nachricht den Anstrich von Ernsthaftigkeit und Authentizität.

Der andere wichtige Aspekt war das britische Verhältnis zu Essen und Nahrungsmitteln im Allgemeinen in jener Zeit. 1957 begann das Land gerade den langen Schatten der Entbehrungen der Nachkriegszeit hinter sich zu lassen: Rationierungen, die die Verfügbarkeit von Brot, Tee, Zucker, Eiern, Käse, Fleisch und anderen Lebensmitteln eingeschränkt hatten, waren erst vollends im Jahr 1954 zu Ende gegangen. Als die gefeierte Kochbuchautorin Elizabeth David ihre bahnbrechenden Kochbücher A Book of Mediterranean Food (1950) und Italian Food (1954) veröffentlichte und damit den Engländern die Wunder der mediterranen Küche vorstellte, war ihr sehr wohl bewusst, dass für die meisten ihrer Leser Knoblauch, Auberginen, Zucchinis und Olivenöl fremdländische Kuriositäten waren, zu denen wahrscheinlich die wenigsten je Zugang hatten.

Frische oder getrocknete Pasta war höchstens in vereinzelten italienischen Restaurants in Stadtteilen wie Soho in London zu haben, wo Einwanderer aus diesem Land lebten, aber im Zentrum Londons eröffnete das erste italienische Restaurant The Spaghetti House erst 1955. Im Jahr 1957 hatten bestimmt die wenigsten englischen Familien je in einem Restaurant Pasta gegessen, und wenn es zu Hause Spaghetti gab, so kamen die bestimmt aus der Dose. Aber das bedeutet, dass den Briten – und als Jahre später derselbe Bericht in den USA ausgestrahlt wurde, den Amerikanern – verziehen sei, wenn sie glaubten, die besten Spaghetti kämen aus dem Tessin und vom Ufer des Luganer Sees, wo sie frisch von den Bäumen gepflückt wurden.

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