Was man Ihnen über das Schreiben eines Tagebuchs verschweigt

Führen Sie Tagebuch? Wenn Sie jemanden fragen, warum er das macht, wird er Ihnen wahrscheinlich einige positiv klingende Beweggründe dafür nennen. Das Tagebuchschreiben, wie ich es die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens tue, ist eine tägliche Schreibpraxis, die hilft, über das Chaos und das Wunder jedes einzelnen Tages nachzudenken. Dabei lässt man den Tag gedanklich noch einmal Revue passieren und ordnet ein, wählt aus und schreibt über die Ereignisse oder Gefühle, die wichtig sind. Das hinterlässt eine ähnliche Zufriedenheit wie zum Beispiel den Tag mit einem geordneten Schreibtisch oder einem aufgeräumten Haus ausklingen zu lassen (in meinem Fall allerdings in wesentlich kürzerer Zeit, was Ihnen einleuchten würde, wenn Sie mein Haus sehen würden). Es ist eine Art Marie Kondo-Aufräumprogramm zum Tagesende für den Kopf.

Vielleicht wird auch jemand sagen, dass ein Tagebuch hilft, sich zu erinnern. Als ich jung war, dachte ich tatsächlich, ich würde mich an alles Wichtige im Leben erinnern. Als meine Freunde in der Highschool Geld für Kameras und Filme ausgaben, fragten sie: „Fotografierst du nicht?“ „Nein“, antwortete ich ihnen. „Ich will mich erinnern.“ Ich habe es tatsächlich so gesagt und das Wort zur Betonung in die Länge gezogen. Natürlich wurde mir dann mit Anfang zwanzig klar, dass ich mich nicht nur nicht an alles, sondern nur an sehr wenig erinnern konnte und sich meine Kindheit bereits in den Nebel der Vergangenheit zurückzog. Das galt, bis meine Freunde anfingen, mich auf Facebook mit ihren eingescannten alten Kamerafilmen zu erinnern. Aber selbst dann hilft das Schreiben eines Tagebuchs, sich an mehr zu erinnern als nur an das Lächeln, das man für die Kamera aufgesetzt hat. Das Bewusstsein ist ein tägliches Schlachtfeld, und der Verstand ist erbarmungslos effizient bei der Triage – dem Sichten, Erkennen und Einordnen nach Wichtigkeit – und der Entscheidung, nützliche Erinnerungen zu speichern, während die kleinen, ungewöhnlichen Details in die Vergessenheit verbannt werden. Aber natürlich sind es oft gerade diese kleinen Details, die das Leben interessant machen, und in Ihrem Tagebuch können Sie sie zusammen mit all Ihren aktuellen Gefühlen und gedanklichen Auseinandersetzungen mit sich selbst, die sich in einem Schnappschuss nie zeigen, festhalten.

Man könnte viele weitere Vorteile des Tagebuchschreibens aufzählen. Es beruhigt, hilft zu entspannen und rückt die Dinge ins rechte Licht. Und wenn man gerade etwas Neues lernt, auf ein Ziel hin arbeitet oder sich auf einen bestimmten Weg begeben hat, kann ein Tagebuch dabei helfen, Fortschritte zu erkennen. Vielleicht wird man Ihnen sogar davon erzählen, dass man dadurch seine Schreibkompetenzen grundsätzlich verbessern kann oder lernt, Gedanken gegenüber Freunden, Familie und Kollegen besser zu formulieren.

Aber alles wird man Ihnen nicht über das Tagebuchschreiben verraten. Das Wichtigste, was keiner erwähnen wird, ist, dass man einen strapazierfähigen Magen braucht – nämlich um das, was man geschrieben hat, ein, zwei oder zehn Jahre später noch einmal zu lesen und zu verdauen. Dinge, die damals so ernsthaft erschienen, entpuppten sich im Nachhinein als lächerlich. Dinge, von denen man dachte, sie würden den Lauf des Lebens verändern, hatten kaum Auswirkungen. Es ist, als steckte man in einem endlosen Facebook-Feed mit schauderhaften Rührseligkeiten, peinlichen, veralteten Klamotten und Tagen fest, an denen alles schief geht. Trotz all der guten Dinge, die das Schreiben eines Tagebuchs bewirken kann, ist das, glaube ich, genau das, was die meisten Menschen davon abhält: der Mut, sich selbst im Spiegel zu betrachten, sein früheres Ich zu sehen und damit zu leben. Bevor die Menschen Schreibgeräte erfanden, haben sie Vergangenes einfach vergessen. Und vielleicht ist das auch einfacher.

Die andere Sache ist, dass es wirklich eine Plackerei sein kann. Wie alles, was man jeden Tag erledigen muss – von der Teilnahme an Teambesprechungen bis hin zum Joggen oder Gassigehen mit dem Hund, hat man manchmal einfach keine Lust dazu. Wenn wir heutzutage nach Unterstützung suchen, wenden wir uns vielleicht an die sozialen Medien, aber es liegt in der Natur eines Tagebuchs, dass man damit nicht an die Öffentlichkeit gehen kann. Freunde posten auf Instagram, wie sie ihre Diäten und ihre Sportroutine einhalten. Aber: „Hey, ich habe gerade den 1103. Tag in Folge in mein Tagebuch geschrieben!“, sagt niemand. Wenn wir alles in den sozialen Medien posten, erwarten wir vielleicht jedes Mal, wenn wir etwas Gutes tun, einen kleinen Dopaminschub von der Community. „Habe heute Müll aufgesammelt!“ Like, like, like. „Habe einen Schokoladenkuchen gebacken!“ Gefällt mir. Gefällt mir. Gefällt mir. „Hier ist meine Katze!“ LOVE. Aber ein Tagebuch – und damit ist kein Blog gemeint, sondern ein gutes, altmodisches Tagebuch – ist persönlich. Die Belohnungen sind durchweg persönlich, und sie bringen einem kein „Gefällt mir“, „Teilen“ oder „Folgen“ ein.

Auch wenn ich nicht zurückblicke und alles, was ich je geschrieben habe, noch einmal lese, ist das Führen eines Tagebuchs Tag für Tag, Jahr für Jahr eine bereichernde und lohnende Erfahrung. Aber es eignet sich sicher nicht für jeden, egal was andere dazu sagen.

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