Mein Leben als Schnecke

Ich lüfte jetzt mal mein Hirn und vertreibe all das, was sich da in der Abteilung Kommunikation und Marketing angesammelt hat, Dinge wie Daten-Driven.

Mit meinem Lüftungs-Versuch beame ich mich zurück in eine Zeit, in der mein Online-Laden für veganes Hundefutter mich und meine Bedürfnisse noch nicht besser kannte als ich mich selbst. Ich gebe zu, ich vermisse diese Zeit. Eine Welt ohne Datenspuren, in der mein Händler für Hundefutter noch auf persönliche Gespräche angewiesen war, um zu erfahren, was für einen Hund ich habe und was ich über die Welt denke, um daraus seine ebenso persönlichen wie professionellen Schlüsse für das richtige Hundefutter zu ziehen. Warum diese Nostalgie? Erstens, weil es, um beim Hundefutter zu bleiben, vielleicht noch ganz andere Hundefutter gibt, die alles sprengen, was ich bisher kannte und auf die kein Algorithmus der Welt bisher gekommen ist. Und zweitens, weil ich überrascht werden und nicht nur überall immer das wiederfinden möchte, was Algorithmen für mich halten, um mich dann so oft damit konfrontieren, bis ich selbst daran glaube, der zu sein, für den sie mich halten.

Wäre es nicht spannender, wenn man uns ernst nähme und nicht einnähme wie ein Target? Für diese Wunschkommunikation, die vieles ist, nur nicht Data-Driven, findet mein lüftendes Hirn spontan den Begriff Menschen-Driven. Dazu braucht es gar nicht viel. Wir müssen uns nur mal rauszoomen, zumindest mental, aus dem datengetriebenen Algorithmen-Universum, das sich selbst befeuert und Sie und mich nur als Datenspuren-hinterlassendes-und-Geldausgebendes Etwas braucht: Eine Schnecke, die zeitlos ewige Spuren hinterlässt. Früher war diese Schnecke mal ein Kunde, den man freundlich König nannte. Aber die Monarchie fiel der digitalen Revolution zum Opfer, der König ist im Exil oder nur noch eine Schnecke unter vielen.

Will ich das? Als bekennender Nostalgiker eher nicht. Ich wünsche mir manchmal eine Welt zurück, in der man mir noch nicht ständig wie ein Stalker im Schatten folgte und jede Spur, die ich hinterlasse, wie eine digitale Miss Marple zum Targeting und Profiling einsetzt. Eine Zeit, als man noch darauf bauen konnte, irgendwann einfach wieder vergessen zu werden. Aber heute gibt es kein Vergessen mehr, gnadenlos bleibt der Nachwelt jede gekaufte Tüte Hundefutter erhalten wie Stonehenge.

Mein Traum neben dem Vergessen? Ich wünsche mir, dass Marken und Unternehmen, die mir etwas anbieten wollen, einen höflichen Abstand wahren, mir nicht überall auflauern, mich nicht überfordern, als sollte ich aus einem Feuerwehrschlauch trinken, nur weil ich gerade ein bisschen Durst habe. Diese endlose Beschleunigung, die vorgibt eine Reise zu sein, dabei aber nur rasend auf der Stelle tritt, ist auf Dauer zu anstrengend. Schenkt mir ein bisschen Ruhe, eine offene Langeweile, in der alles passieren kann und nichts entschieden ist. Etwas, das sich einfügt in mein Leben und nicht mich einfügt in ein Leben, dass nur so ist wie ihr es wahrnehmt. Beziehungen, die diesem Muster folgen, jeder Paartherapeut wird das bestätigen, sind toxisch auf Dauer. Da könnt ihr mich abholen, da könnt ihr mich überraschen, weil ich da noch nicht der bin, auf den mich eure Daten zusammengeschrumpft haben. Mit dieser Wertigkeit wären wir Menschen-Driven, nahe an den Menschen, auch wenn es nur um Hundefutter geht.

Ich möchte am Ende des Tages nicht mehr erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass ich wieder zwei Stunden auf Instagram gesurft habe – und ich mich an nichts erinnere, ihr euch aber alles gemerkt habt, und ich keine Ahnung mehr habe, warum ich das, was ihr euch gemerkt habt, überhaupt angeschaut habe.

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Eckhard Sohns ist Chief Sales & Marketing Officer bei Prodir.

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