Das Ende des Tourismus wie wir ihn kennen?

Müssen wir uns nach der erzwungenen Immobilität einen anderen Tourismus vorstellen?

Versetzen Sie sich in das Jahr 1921. Am Ende des Ersten Weltkrieges, also drei Jahre zuvor, war eine verheerende Influenza- Pandemie, die Spanische Grippe, ausgebrochen. Sie forderte fünfzig Millionen Menschenleben. Weit mehr als der Krieg selbst. Feldlazarette, Masken, Quarantäne. Vor allem jedoch auch weitere Immobilität, nach der bereits während der Kriegsjahre erlittenen. In jenem fernen 1921 wusste niemand mehr, was es bedeutete, zu reisen. Dazu musste man auf den Sommer 1914 zurückblicken, auf eine andere Zeit, auf eine andere Welt.

Doch gerade in jener Zeit begann eine aussergewöhnliche Epoche des Reisens. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten kamen immer weitere Neuheiten hinzu. Schauen wir uns allein die Transportmöglichkeiten an: Das Automobil wurde mit dem Ford T zum Verkehrsmittel im Alltag, lange Züge durchquerten die Kontinente, riesige Kreuzfahrtschiffe befuhren die Meere, die Wasserflugzeuge der Imperial Airways ermöglichten erste internationale Flugstrecken und man plante allen Ernstes, die riesigen Zeppelin-Luftschiffe an der Spitze des Empire State Buildings anlegen zu lassen. Dort, wo das Kino – zusammen mit dem Radio ein weiterer Ausdruck der neuen Moderne – den ausser sich geratenen King Kong (1933) hinaufklettern liess.

In ihrer Villa America in Antibes erfanden Gerald und Sara Murphy den Sommer. Die Stylistin Coco Chanel machte, dank Ihres Einflusses, gebräunte Haut salonfähig. Den Rest übernahm das junge amerikanische Brautpaar zusammen mit ihren berühmten Gästen: Ernest Hemingway, John Dos Passos, Pablo Picasso, Cole Porter, Zelda und Francis Scott Fitzgerald. Fitzgerald war es dann auch, der in „Tender is the night“ (1934) jenen ewig währenden Sommer schilderte: lange Nachmittage am Strand, Cocktails, Jazz aus dem Grammophon, abendliche Essen auf der Terrasse, sommerliche Liebschaften, Rennen im Kabrio entlang der Corniche… Von den ausschweifenden amerikanischen Künstlern des Sommers beraubt, wandte sich die Schweiz dem Winter zu: Skifahren wurde zur Mode und 1928 fanden in St. Moritz die Olympischen Winterspiele statt.

Die Beschreibung jener denkwürdigen Jahre liesse sich noch lange fortsetzen. Sie werden längst erkannt haben, worauf ich hinaus möchte. Wird es auch nach dieser Pandemie eine ähnliche Entwicklung geben? Werden wir nach dem zweijährigen körperlichen und seelischen Lockdown bequem und träge die alten Gewohnheiten wieder aufnehmen, oder werden wir eine neue Zukunft erfinden, wie es in den Goldenen Zwanzigern geschah?

Manch einer hat im Übrigen schon lange diesen schnellen, banalen, konsumgesteuerten Tourismus satt. Ein Tourismus, der von Ryanair- und Airbnb Algorithmen diktiert wird und sich in einer Unmenge an Instagram- Beiträgen widerspiegelt. Einige Beispiele gefällig?

In Venedig haben sich in den letzten Jahren verschiedene Vereine dafür eingesetzt, die riesigen Kreuzfahrtschiffe, die für einen besonders aggressiven Tourismus stehen, aus der Lagune zu verbannen. Und während der Pandemie haben die Einwohner mit Freude wieder Besitz von ihrer Stadt ergriffen und sind entlang der Calli und Campi gebummelt.

Nachdem innerhalb eines Vierteljahrhunderts die Zahlen von zwei auf dreissig Millionen Touristen gestiegen sind, hat Barcelona im Jahre 2015, auf dem Höhepunkt dieses Erfolges, mit Ada Colau eine Bürgermeisterin mit einem eindeutig antitouristischen Programm gewählt: Kein Lärm mehr auf den Ramblas, keine neuen Hotels in der Altstadt und eine Unterbrechung der Kurzzeitvermietungen über digitale Plattformen.

Vor kurzem folgte Femke Halsema – erste Bürgermeisterin von Amsterdam – diesem Beispiel: Trotz ständig steigender Touristenzahlen und damit wachsender Einnahmen, hört die wichtigste holländische Stadt auf, Reisen in ihre Stadt zu bewerben. Demnächst werden Touristen aus den berüchtigten Cannabis-Cafés verbannt, und auch die Lichter in den Schaufenstern des berühmten Rotlichtviertels De Wallen werden erlöschen.

Also „Probiert was Neues aus“, wie die jüngste Kampagne der Tourismusbehörde Neuseelands empfiehlt. Diese Kampagne zeigt fiktive Ranger, die an den bekanntesten touristischen Sehenswürdigkeiten des Landes patrouillieren, um Touristen davon zu überzeugen, nicht die üblichen Selfies in den immer gleichen Posen zu schiessen.

Die Neuheiten könnten noch radikaler ausfallen. In seinem Dreijahres-Entwicklungsplan hat Kopenhagen beschlossen, den Begriff „Tourismus“ nicht weiter zu verwenden (und auch ich werde in den folgenden Zeilen diese Regel befolgen), da diese alten Begriffe überholte Ideen vermitteln, zu Wiederholung und in einen Teufelskreis führen. Es ist Zeit, die Spielregeln zu ändern. Warum sollte ein besonders schöner Ort denjenigen vorbehalten sein, die aus einer anderen Stadt kommen?

Was würde passieren, wenn wir die Besucher einfach nur als „zeitlich befristete Bewohner“ ansehen würden? Natürlich mit entsprechenden Rechten und Pflichten, aber nicht vollkommen anders als alle anderen? Wenn wir aufhörten, von Wachstum, Zahlen und Berechnungen besessen zu sein? Schliesslich rangiert Kopenhagen regelmässig unter den Erstplatzierten in der Liste der glücklichsten Städte… Überlassen wir also der Gesellschaft die Freiheit zu wählen, zu erneuern, freie und offene Räume zu schaffen: einfach offen zu sein.

➝ OPEN NOTE
Autor: Claudio Visentin lehrt Geschichte des Tourismus an der Università della Svizzera Italiana.

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