Ja, ich gebe es zu: Ich bin Leser. Ich stelle mich freiwillig mehrmals täglich ohne erkennbaren Grund in handliche mobile Ecken, die ich mit mir führe und die in den Augen Dritter nichts anderes zu bieten haben als nicht animierte, wüstenartig und zufällig angeordnet schwarze Zeichen auf weissem Grund. Bewegung, Bilder, Filme, Farben, Links, Werbung und alles, was sonst so wichtig ist, fehlen.
Es gab Zeiten, wie damals beim Rauchen, da wurde diese Abhängigkeit toleriert, sogar gefördert. Heute fallen wir auf, wir Leser. Und ähnlich wie bei Nikotinabhängigen, ist es schwieriger geworden, sich den guten Stoff zuverlässig zu besorgen. Wir sind die, mit der Ecke vor dem Kopf, während alle anderen auf ihr Display starren.
Lesen scheint sowas von unsinnlich, unsozial und völlig aus der Zeit gefallen. Man riskiert, das eigene Immunsystem ob Bewegungsmangels nicht angemessen zu trainieren, wird anfälliger für Viren, droht vereinsamt und dick zu sterben. Jeder Versuch der Selbstoptimierung, die sich vom Fitnessstudio auf das Lesen verlagert, droht der krankenversicherungstechnische Bann.
Und trotzdem, ich kann nicht genug davon kriegen.
Wenn ich in Urlaub fahre, was ich tatsächlich noch tue, wähle ich Strände nicht nach den Kriterien Wasserqualität und Feinsandigkeit. Wichtiger ist die Nähe zu dichtem, schattenspendendem Baumbestand, der die Hitze und das Licht fernhält und das problemlose Aufklappen mobiler Ecken ermöglicht. Mediterrane Kiefer eignen sich übrigens am besten, auch wegen des angenehm unaufdringlichen Geruchs, der die Leseerfahrung durchaus sinnlich erweitert.
Reisen in zivilisatorisch unberührte Weltgegenden sollten Buchabhängige gut vorbereiten. Sie müssen bereit sein, Kompromisse einzugehen. Hier ersetzt man schon gewichtstechnisch die klassische mobile Ecke am besten durch eine leichte, ebenfalls tragbare mobile Wand, die dank eigener Beleuchtung auch in Schlafsälen von Berghütten den Rückzug ermöglicht und Ablenkung bei akutem Schnarchterror bietet. Ausserdem lassen sich so selbst in komplett buchhandelsfreien Räumen wie Südpatagonien oder Nordtexas neue Bücher in der eigenen Muttersprache runterladen,
die sonst nie alle in den Rucksack gepasst hätten. Wenn ich weniger weit verreise, nach Italien zum Beispiel, und Koffer zur Verfügung stehen, nehme ich immer mehre aufklappbare Ecken mit, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Hier dienen sie nicht ausschliesslich dem Rückzug in die eigene kleine Ecke am Abend auf der Piazza. Nein, im Italienurlaub kann eine geschlossene Ecke, deren bunter Titel leicht geheimnisvoll wie ein verstecktes Zeichen auf dem Bistrotisch neben Campari Soda und kleinen Aperitif-Häppchen liegt, eine soziale Funktion erfüllen und zumindest sporadisch zu durchaus willkommenen Kontakten führen: Ach, den hab ich auch gelesen!
Dennoch, lassen Sie mich ehrlich sein, trotz Lockdown bin ich als Leser der Meinung: Reisen wird überschätzt. Denn warum soll man reisen, wenn man die Welt erleben und Menschen kennenlernen kann, ohne sich auch nur einen Schritt zu bewegen? Nun habe ich nicht vor, Flüge zu verbieten und durch subventionierte Mitgliedschaften in Buchclubs zu ersetzen. Es geht mir um Freiheit, wahre Freiheit. Denn für mich als therapieresistenten Buchabhängigen ist das Reisen mit dem Kopf ebenso befreiend wie das andere Reisen. Mindestens.
Open a book, open your mind, steht auf dem T-Shirt der Leihbibliotek in Burlington, Iowa. So sehe ich das auch.
Und wenn Reisen neben dem Öffnen neuer Horizonte vor allem dem Entspannen dienen soll, dann kann ich nur sagen, dass sich ein Kopf, der sich freiwillig in die Ecke stellt, diesem Ziel sehr sehr schnell nahe kommt. Forscher an der University of Sussex fanden heraus, dass schon sechs Minuten Lesen am Tag den Stress um bis zu 68% reduzieren können. Sechs Minuten reichen. Sie senken die Herzfrequenz und lockern die Spannung in den Muskeln. Forscher, werden Sie vielleicht einwenden, sind keine wirklich verlässliche Quelle, weil sie sich selbst stets hinter irgendwelchen mobilen Ecken in ihrem Elfenbeinturm verstecken. Aber vielleicht versuchen Sie, sich für diese neue Position zu öffnen. Gewisser-massen als Experiment. Ein bisschen habe ich Sie ja schon aus Ihrer Komfortzone rausund vom Handy weggelockt, sie lesen ja gerade! Die Studie kommt nämlich zu weiteren erstaunlichen Vergleichen.
Sie fand heraus, dass das Lesen mit seiner hohen Stressreduktionskapazität, die übrigens nur analog und nicht digital erreicht wird, nachweisbar entspannender ist als eine Tasse Tee zu trinken, spazieren zu gehen oder Musik zu hören. Das überrascht natürlich. Denn wenn wir schon beim Lesen bei 68% sind, dann macht’s ja nichts, wenn wir beim Tee nur, sagen wir, auf knappe 54% kommen. Es sind also diese ganz einfachen Dinge, nicht die Malediven, Sylt oder Power Shopping, sondern Tee trinken, einmal um den Block gehen und Rolling Stones hören. Egal, wo sie praktiziert werden.
Und wenn man das jetzt mal ganz unwissenschaftlich zusammendenkt, dann ergibt sich aus Kombination der oben genannten einfachen Dinge eine Art multifaktorielles Lesedoping. Warum also nicht eine Tasse Tee unter einem schattigen Baum mit gelegentlichem Waldblick trinken und dabei ein gutes Buch lesen, bevor man zum Abendspaziergang mit Stones-Beschallung aufbricht? Wie tief wird dann unser Stresslevel sinken? Lassen Sie es uns versuchen. Ich glaube, dass wir alle gerade jetzt, in diesen (hoffentlich) nachpandemischen Zeiten, jeden, aber auch jeden Stressabbau brauchen und kompromisslos nutzen sollten, den wir bekommen können. Weil wir alle so richtig reif sind für die Insel. Da ist es ja ganz gut zu wissen, dass diese Insel vielleicht viel näher liegt als wir alle glauben. Aber wie gesagt, ich bin Carl, und ich bin buchabhängig. Und Sie?