Die Weisheit der Cloud

Es ist kurz nach Mitternacht am 24. August 1995, Sie stehen vor einem BestBuy Elektronikladen in Ihrer Nachbarschaft. Sie haben Wasser, etwas zum Knabbern und Start Me Up von den Rolling Stones als Endlosschleife im Kopf. Sie warten mitten in einer kleinen, aber beständig anwachsenden Menge anderer, ebenso begeisterter Menschen wie Sie selbst, unterhalten sich leise, erzählen sich gelegentlich einen Witz und bereiten sich darauf vor, den Rest der Nacht hier zu verbringen, bis sich am Morgen die Türen für eins der grössten Ereignisse dieses Jahres öffnen werden.

Falsch, es ist weder Black Friday noch die Led Zeppelin Reunion Tour, hier wird gerade eine frisch herausgegebene Software zum ersten Mal verkauft, und Sie wollen die ersten in Ihrer Nachbarschaft sein, die das neue Windows 95 Betriebssystem kaufen und tatsächlich besitzen.

Was war an Software so schwer

Obwohl nicht jede Neuauflage mit so viel Spannung erwartet wurde wie Windows 95, war das damals eine Zeit, als jede Software auf diese Weise verkauft wurde: Zuerst als Floppy Discs, dann als CD-ROMs, die man in Karton- oder Plastikverpackungen kaufte, mit nach Hause nahm und auf dem Computer installieren konnte. Das Beste aber war: Die Software gehörte einem selbst und man besass sie als Dauerlizenz für alle Ewigkeiten. Jede Aktualisierung, Verbesserung und Fehlerkorrektur würde man mit der nächsten Veröffentlichung in einem oder zwei Jahren bekommen, wenn man sich wieder auf den Weg machen, sich abermals in eine Schlange stellen und sie sich erneut kaufen würde.

Aber die Zeiten der physischen CD-ROMs sind vorbei. Vermutlich wird auch das Konzept eines einmaligen Software Kaufs bald undenkbar sein, da immer mehr Unternehmen das neue SaaS Geschäftsmodel übernehmen. Software als Dienstleistung gibt es besonders bei digitalen nativen Unternehmen schon seit geraumer Zeit, aber erst seit etwa 10 bis 15 Jahren (zugegebenermassen eine Ewigkeit in Zeiten des Internets) nehmen auch alteingesessene, führende Industrieunternehmen dieses Model an. Im Rückblick sind die Vorteile offensichtlich.

Vor allem aber schaffte das Preisniveau für jede dauerhaft lizensierte Software eine beträchtliche Hürde. Softwarepakete waren teuer, denn man hatte sie ein Leben lang – was gleichzeitig einen ungewollten aber blühenden Markt billiger geschmuggelter, raubkopierter oder sonst wie geknackter Versionen von Windows über Photoshop bis zu Ihrem Lieblingsvideospiel anheizte. Es gab kein „Testen Sie uns vor dem Kauf“, und Aktualisierungen und Verbesserungen kamen aus heutiger Sicht im Schneckentempo daher und immer im nächsten Jahr oder nur alle paar Jahre als Teil einer grossen Neuveröffentlichung. Wenn es Zeit für eine Aktualisierung war, musste man die alte Software löschen und die neue selbst installieren – kein bedeutendes Problem für eine Einzelperson, aber bei einem Unternehmen mit 1‘000 Mitarbeitern verursachte all das massive, logistische Kopfschmerzen. Das vermutlich grösste Problem für Unternehmen war jedoch, dass diese langsamen, neuen Aktualisierungen beachtliche Umsatzsprünge generierten, die bis zum nächsten Mal gestreckt werden mussten.

Adobe fasst die Cloud ins Auge

Adobe ist eine Firma, die sich mit all dem und mehr auseinandersetzen musste. Ihr Flaggschiff, das Creative Suite Softwarepaket, umfasste Photoshop, Acrobat, InDesign, Illustrator und weitere Programme, die in der Geschäftswelt in jeder erdenklichen Weise ebenso fundmental sind wie Windows. Diese Programme waren nur für einen hohen Preis zu haben, und ihre Aktualisierungen kamen nur ungefähr alle zwei Jahre heraus. In mageren Jahren allerdings, wie zum Beispiel nach der Rezension von 2008, bedeutete es, dass User ihre dauerhaft lizensierte Software erst nach zwei, drei oder mehr Jahren aktualisieren konnten. Viele beschlossen deshalb, dass das, was sie besassen, gut genug für den Rest ihres Lebens war. Genau zu dieser Zeit beschloss Adobe, dass sich in diesem Bereich etwas ändern musste.

Im Jahr 2015 stellte es Adobes CFO Mark Garrett Kara Sprague von McKinsey in einem Interview so dar: Die firmeninterne Debatte dauerte ein Jahr und bedurfte zahlreicher Umsatzprognosen und Wirkungsstudien, bis man sich schliesslich einigte und in einem Kommuniqué erklärte, man werde ein SaaS Model in Anwendung bringen, was bedeutete, dass all ihre Software zukünftig auf zentralen Servern gespeichert bliebe und Lizensierungen nur im Abonnement vergeben würden. Die Übergangsphase wurde für alle betroffenen Akteure von einer umfangreichen Werbekampagne und ausführlicher Kommunikation begleitet. Der Wandel vollzog sich langsam und für das Unternehmen war er verbunden mit hohen Kosten, denn während mehr als einem Jahr bot man beides, dauerhaft lizensierte Software und Abonnements gleichzeitig an, bis man den Übergang zum SaaS Abo-Service vollständig vollzogen hatte. Bei diesem Wechsel jedoch ging es um mehr als die Entscheidung für die eine oder andere Preispolitik. Creative Suit gegen Adobe Creative Cloud auszutauschen bedeutete, wendige Teams zusammenzustellen, um häufige Aktualisierungen herausbringen zu können, mobile, mit Desktop-Apps kompatible Apps zu bauen, die Plattform für Drittentwickler zu öffnen und den kreativen Markt durch den Einkauf des geliebten Design Portfolio Vorzeigeprojekts Behance ins Rampenlicht zu stellen. Ausserdem mussten sie in alle Aspekte einer 24/7 laufenden Dienstleistung investieren, wozu neben der Infrastruktur auch Sicherheit und Rechnungswesen gehörten.

Der Schritt erwies sich nicht nur als massiver Gewinn für Adobe, sondern auch für ihre vielen Millionen zahlende Kunden. Ihr Cloud basiertes Servicemodel eröffnet ihnen die Möglichkeit, auf der Basis der Erfahrungen mit der realen Verwendung ihrer App, dem allgemeinen Interesse daran und dem erhaltenen Feedback, ständige Veränderungen und Aktualisierungen vorzunehmen. Das neue System versorgt sie mit einem konstanten Fluss von Echtzeitdaten, die bei der Analyse helfen, wie Menschen ihre Produkte verstehen und damit umgehen. Überdies gestattet es ihnen, gestaffelte, preisgerechte Einstiegspunkte für alle verschiedenen Niveaus, Einkommen und Fähigkeiten zu schaffen. Ihre Produkte konnten sich von einer elitären, professionellen Software zu einem marktgerechten, kreativen Angebot hin verlagern, das all ihren Kunden Flexibilität, Reaktivität und ständig aktualisierte Relevanz anbot.

Wie schon weiter oben gesagt, gibt es natürlich digitale native Unternehmen wie Salesforce, Mailchimp, Shopify, Dropbox, Google, Vimeo und zahllose andere, die auf der Basis eines SaaS Models entstanden, damit wuchsen und oft genug grosse Erfolge verzeichneten, indem sie ihre Produkte mit einem freemium Einstieg zunächst gratis zur Verfügung stellten. Für gestandene Softwarefirmen wie Adobe oder auch Microsoft bedeutete der Übergang zu SaaS jedoch eine richtungsweisende Veränderung. Ihr Erfolg hat der Geschäftswelt bewiesen, dass als Unternehmen zu prosperieren auch bedeutet, die Weisheit der Cloud anzunehmen und für sich einzusetzen.

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