Ganz nach unten mit Umberto Pelizzari

Umberto Pelizzari ist entspannt, offen und natürlich, ganz das Gegenteil eines besessenen Sportlers, der vor einundzwanzig Jahren mit 150 Metern den Weltrekord im Apnoetauchen aufstellte. Die beiden Taucherlegenden Jacques Mayol und Enzo Maiorca, deren Freundschaft und Rivalität den Film Im Rausch der Tiefe inspirierte, waren Pelizzaris Lehrer. Von ihnen hat er gelernt, dass Apnoetauchen kein einfaches Abtauchen ins Meer ist, sondern vielmehr ein Abtauchen in sich selbst.

Schon lange hat sich Pelizzari aus professionellen Wettbewerben zurückgezogen, aber hier plaudert der 55-jährige Lehrer und Motivationstrainer mit uns darüber, warum der Brustkorb in einer Wassertiefe von 150 Metern nicht implodiert, was für ein Gefühl es ist, mit Pottwalen zu schwimmen und dass die Atmung der Schlüssel dafür sein könnte, die Covid-19 Pandemie zu überleben.

OPEN: Apnoetauchen bedeutet: Luft anhalten und runter, oder steckt mehr dahinter?
UMBERTO PELIZZARI: (lacht) Zum Apnoetauchen gehört eine Reihe verschiedener Disziplinen, und jede einzelne hat ihre eigenen Techniken und bedarf eines anderen Trainings. Ich habe mich auf Tiefe spezialisiert, aber selbst hier gibt es unterschiedliche Arten runter zu gehen und wieder rauf zu kommen. In dem Film Im Rausch der Tiefe sieht man Tieftauchen mit variablem und mit unbegrenztem Gewicht, das heißt, man geht mit einem beschwerten Schlitten nach unten und steigt mit einem Ballon wieder auf. Darin habe ich mit 150 Metern den Rekord aufgestellt.

150 Meter unter der Wasseroberfläche? Unglaublich. Wie fühlt sich das an?
An dem Tag, an dem ich den Rekord aufgestellt habe, war ich so auf den Wettbewerb konzentriert, dass ich außer der Befriedigung, als Erster da unten gewesen zu sein, sonst nichts mitbekommen habe. Ja, 150 Meter ist eine unglaubliche Tiefe, Enzo Maiorca schaffte 50 Meter, dann traf Jacques Mayol als Erster die 100ter Marke, aber die 150er gehört mir.

Wie wirkt sich das körperlich aus, so tief nach unten zu gehen?
Wir sind dafür gemacht, in unserer gewohnten Atmosphäre zu leben, aufrecht zu gehen, den Kopf oben zu halten und zu atmen. Unter Wasser ist das total anders. Bei einer Wassertiefe von 150 Metern pressen auf jeden Quadratzentimeter deines Körpers mehr als 15 Kilo, das sind etwa 15 Atmosphären. Zunächst mal muss der Körper also mit derart extremen Druckverhältnissen fertig werden. Auf das Trommelfell zum Beispiel drücken natürlich auch 15 Kilo, und diesen Druck muss man mit der Luft in den Lungen ausgleichen, um so das Trommelfell zurück in seine normale, vertikale Position zu bringen.

Aber auch deine Lungen werden da unten winzig klein, das heißt, sie schrumpfen auf dem Weg nach unten auf ungefähr ein 15tel  ihres Normalvolumens. Man kann sich gut vorstellen, wie kompliziert es ist, aus so kleinen Lungen genügend Luft zu holen, um den Druck auf die Trommelfelle auszugleichen.

Wow! Mir tun die Ohren schon weh, wenn ich 3 Meter tauche, wie soll das dann erst bei 150 Metern sein!
Aber das ist nicht alles, wäre man nur dieser Schrumpfung der Lungen ausgesetzt und könnte dem zum Ausgleich nichts entgegensetzen, würde unser Brustkorb implodieren. Er würde vom Wasserdruck zerquetscht. Aber unser Körper reagiert mit dem sogenannten „Hamburger-Shift“. Genau wie Meeressäugetiere, Wale, Robben und Delfine, reagiert unser Körper auf diese Bedrohung, indem er Blut aus den Extremitäten, aus Armen und Beinen absaugt, wo wir ja keine lebenswichtigen Organe haben, und es in die Brust pumpt. Blut ist eine Flüssigkeit und  Flüssigkeiten können nicht komprimiert werden, also wird der Brustkorb nicht zerquetscht. Diese automatischen physiologischen Prozesse werden unter Wasser ausgelöst, in unserer normalen Atmosphäre kommen sie allerdings nicht vor.

Aber auch das Herz verändert sich, es wird sehr, sehr langsam und schlägt im Durchschnitt nur noch 10, 12, 15 Mal in der Minute. Der Körper nimmt keinen Sauerstoff mehr auf, also verteilt unser Herz den vorhandenen Sauerstoff so langsam wie möglich.

Kann man diese Prozesse kontrollieren?
Nein, absolut nicht. Aber man kann und muss seinen Körper trainieren, um diesen Bedingungen standhalten zu können. Wenn ich zum Beispiel zehn Jahre lang nicht trainiere und plötzlich beschließe auf 150 Meter zu tauchen, bin  ich tot. Das Trainingsprogramm, das zwischen 10 und 12 Monaten dauert, ist so gestaltet, dass sich der Körper langsam an derart extreme Bedingungen gewöhnt.

In Ihrem Trainingsprogramm beschäftigen Sie sich also damit, Menschen für körperliche Belastungen fit zu machen. Gerade im Moment aber sind wir noch so vielen anderen Belastungen ausgesetzt, wie zum Beispiel der Pandemie, der Umweltkrise, der Politik. Hilft Ihr Training auch dabei?
Ich hatte das große Glück, Jacques Mayol als Lehrer zu haben, er war der Erste, der Pranayama Atemtechniken für Apnoetauchen und Focus Training nicht nur unter körperlichen Gesichtspunkten, sondern vor allem auch als mentale Hilfe eingesetzt hat. Yoga lehrt uns, dass Atmen das beste Werkzeug ist, Entspannungszustände zu erlangen, Konzentration, innere Ruhe, Körperkontrolle und auch, mit Extremsituationen umgehen zu können.

Auf diese Weise zu atmen, verbessert nicht nur die sportliche Leistung, es hilft uns auch dabei, durch andere Krisen zu navigieren, wie die, die Sie genannt haben, besonders was das Coronavirus angeht.

Sehen Sie eigentlich etwas von der Unterwasserwelt, in der Sie sich befinden, wenn Sie da unten sind? Oder sind Sie nur in Ihrem Kopf?
Ein französischer Journalist sagte einmal: „Taucher schwimmen da unten, um sich umzusehen. Apnoetaucher gehen da runter, um nach innen zu schauen.“ Das ist der Unterschied. Wenn Sie unter Wasser tauchen, können Sie Fotos machen und sie dann Ihren Freunden zeigen. Wenn man dagegen beim Apnoetauchen ein gewisses Niveau erreicht hat und man ist total entspannt und geht vollkommen in seinem Körper auf, lässt sich das, was man innerlich sieht und fühlt nicht auf einem Foto darstellen. Es ist sogar schwer, es in Worten auszudrücken.

Aber Sie gehen nicht nur dieser intensiven Erfahrungen wegen da runter, oder?
Nein, natürlich nicht! Es gibt jede Menge Gründe, im Meer zu tauchen. Ich bin zum Beispiel auch begeisterter Speerfischer und wenn ich tauche, um zu fischen, achte ich auf alles, was mich umgibt, denn ich muss ja meinen Freunden zum Abendessen was mit nach Hause bringen. Ich bin auch schon mit Delfinen und Walen geschwommen, und dagegen ist Apnoetauchen eine vollkommen andere Erfahrung: Apnoetauchen bleibt immer absolut persönlich.

Mit Walen schwimmen? Wie fühlte sich das denn an?
Das ist eine umwerfende Erfahrung! Ich bin schon mit Buckelwalen und auch mit Pottwalen geschwommen. Du bist da draußen auf hoher See und auf einmal kommt so ein riesiges U-Boot auf dich zu geschwommen und dir wird mit einem Schlag klar, dass du hier nicht viel zu melden hast, denn der Wal kann mit dir machen, was er will. In so einer Situation ist es sehr wichtig, die absolute Ruhe zu bewahren. Tut man nichts, was den Wal nervös macht, verhält sich das Tier vollkommen natürlich.

Als ich einmal mit einem Freund mitten im Meer war, trennte sich das Leittier von seiner Herde Pottwale und schwamm genau auf uns zu. Mein Körper fing fast an zu vibrieren und es ging mir durch und durch. Man könnte sagen, der Wal checkte uns aus, und versuchte zu verstehen, was diese beiden Dinger da mitten im Meer taten, und vor allem wollte er herausfinden, ob wir eine Gefahr darstellten. Nach einer Weile sandte der Wal der restlichen Herde ein Signal der Entwarnung. Hätten sie uns als Gefahr betrachtet, wären sie verschwunden, aber so blieben sie in der Nähe. Es ist wunderbar, Naturgesetze so hautnah zu erleben und sich selbst in eine solche Situation einzufügen, ohne ein Chaos auszulösen.

Bleib ruhig, denk darüber nach, welche Konsequenzen deine Handlungen für andere haben, atme. Das sind fantastische Lektionen für uns alle. Danke, Umberto.

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Umbertopelizzari.com

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