Was bedeutet Vertrauen in der digitalen Wirtschaft, in der man sich nicht mehr die Hand gibt, sondern lieber einen anonymen Kommentar hinterlässt? Mehr als Sie denken. Ein Gespräch mit Philipp Kristian Diekhöner, Autor des Buchs The Trust Economy.
OPEN: Sie sprechen von einer Renaissance des Vertrauens in der Wirtschaft. Was ändert sich da gerade?
PHILIPP KRISTIAN DIEKHÖNER: In den letzten 20 Jahren haben sich die Möglichkeiten der Technik so schnell entwickelt, dass viele davon ausgingen, dass wir eine Art Hyperindustrialisierung erleben werden, in der Anonymität noch zunehmen wird. Tatsächlich verhält es sich aber so, dass wir digitale Medien nutzen, um Beziehungen wieder stärker ins Geschäftsleben einzubringen. Das Interessante an der Plattformökonomie ist, dass sich weltweit mit sehr verschiedenen Individuen relativ einfach Vertrauen aufbauen lässt.
Was bedeutet das konkret?
Alle guten Geschäftsmodelle fungieren als Vertrauensintermediäre. Und das, was wir jetzt erleben, ist einfach gesagt, dass wir unser Vertrauen von Offline-Intermediären zu Online-Intermediären verlagern. Und damit digitalisieren wir unser Vertrauen. Das bedeutet auch, dass die digitale Technologie uns die Fähigkeit verleiht, Vertrauensprozesse viel besser zu skalieren. Das hört sich jetzt vielleicht etwas abstrakt an, aber das Spannende ist, es führt dazu, dass sich die Art und Weise, wie wir wertschöpfen, stark verändert. Denken Sie an Plattformen wie Uber oder Ebay, die zwischen zwei Parteien – Fahrer und Fahrgast, Käufer und Verkäufer – makeln und das Vertrauen über gegenseitige Bewertungssysteme herstellen. Vertrauen ist der zentrale Wertschöpfungsmotor.
Sind wir dabei nicht oft zu vertrauenselig?
Technologie verleitet uns dazu, auch völlig fremden Menschen oder neuen Ideen zu vertrauen. Der Bereich E-Commerce ist ein klassisches Beispiel. Vor 30 Jahren konnten sich wenige vorstellen, in einem Geschäft zu kaufen, das es gar nicht gibt. Heute macht das fast jeder. Das gleiche gilt für das Thema Dating. Das Spannende daran ist, dass diese Vertrauensbrücken oft auf Vorschuss aufbauen. Beispiel: Es gibt eine Investment App, die in Singapur, wo ich lebe, sehr gut beworben wird. Es stellte sich später heraus, dass die Jungs, die hinter dieser App stehen, absolut keine Ahnung haben von Portfoliogenerierung oder von den Dingen, in die sie investieren. Wir vertrauen also erstmal der digitalen Nutzeroberfläche und denken gar nicht darüber nach, ob die Leute dahinter auch tatsächlich ein Produkt auf den Markt bringen, das vertrauenswürdig ist. Das ist ein extrem wichtiges Thema.
Hört sich riskant an.
Stimmt. Sie gehören wahrscheinlich zur Generation der Baby Boomer, das heisst, Sie misstrauen lieber erstmal allem und jedem, und denken wahrscheinlich, Vertrauen ist etwas, das man sich verdienen muss.
Nicht ganz, aber fast.
Die Generationen Y und Z, der ich angehöre, vertrauen auf Vorschuss, bis man uns eines Besseren belehrt. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass die technologischen Plattformen neue Dimensionen in unser Leben gebracht haben. Deswegen ist meine Generation davon überzeugt, dass Technologie und digitale Nutzeroberflächen per se erst einmal gut sind, meistens zumindest. Wir gehen davon aus – was ein sehr romantischer Gedanke ist -, dass wir Menschen generell erstmal vertrauen können. Und das, obwohl wir alle in derselben Offline-Welt leben, in der Misstrauen institutionalisiert wurde: Von der Passkontrolle über Background Checks, wenn Sie einen Job bekommen wollen, geht es in der Offline-Welt immer erst um Misstrauen. Verträge zu schliessen dauert Ewigkeiten, weil Misstrauen als gerechtfertigt gilt. Wir sollten uns ernsthaft überlegen, wie wir uns künftig organisieren wollen, um unsere Offline-Gesellschaft wieder in einen Rahmen zu bringen, in dem wir einander vertrauen können, ohne diese ganze Bürokratie.
Unternehmen bauen Marken, um sich Vertrauen zu verdienen und in positive Kaufentscheidungen umzuwandeln. Was ändert sich für Marken in Ihrem Modell?
Früher waren Unternehmen in der Lage, eine Marke komplett selbst zu definieren, das ist nicht mehr möglich. Heute sind Marken dynamisch und werden durch Nutzer definiert, die online ihre Meinungen und Ansichten mit anderen teilen. Der entscheidende Unterschied zu früher ist also, dass das soziale Kapital, auf dem die Marke aufbaut, quantifizierbar wird. Es gibt Daten, die zeigen, mit wem ich interagiere, welcher Natur diese Beziehung ist, in welcher Form wir miteinander Geschäfte oder auch persönliche Beziehungen pflegen. Was nichts daran ändert, dass Sie einen Vorsprung auf dem Markt nur gewinnen und auch halten können, wenn die Menschen auf Ihre Einzigartigkeit vertrauen. Das soziale Kapital der Marke, ihre Persönlichkeit und deren Stand-Out-Faktor, sind letztendlich das, was sie über die Jahre erfolgreich macht.
Welche Rolle spielt Vertrauen in der Unternehmenskultur?
Interessante Frage. Alle aktuellen Forschungsergebnisse besagen, dass Vertrauen die wichtigste Eigenschaft guter und erfolgreicher Unternehmenskulturen ist. Sie magnetisieren Menschen, damit sie ein gemeinsames Ziel erreichen. Aber in den meisten Unternehmen, auch unter Mittelständlern, ist diese Magnetisierung nicht vorhanden. Woran liegt das? Wir haben in den letzten Jahren extreme Fortschritte im technologischen Bereich erlebt. Aber viele machen so weiter, als wäre nichts passiert. Meine Kernthese lautet: Zu viele Regeln und zu viel Misstrauen sorgen dafür, dass wir Technologie nicht effektiv nutzen und Veränderung nicht schnell genug vorantreiben. Wenn wir das zurückbringen auf das Thema Kultur, heisst das, die Kultur muss sich ändern, damit ich mein Unternehmen verändern kann. Aber warum sollte sich eine Kultur ändern, wenn die Mitarbeitenden nicht darauf vertrauen, dass diese neue Kultur letztendlich für sie besser ist? Dieses Thema interessiert mich brennend: Wie magnetisiere ich ein Unternehmen? Wie sorge ich dafür, dass jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin der Ansicht und Überzeugung ist, dass diese Veränderung, die sie gemeinsam machen wollen, auch sinnvoll ist? Wir bauen gerade ein Tool, mit dem wir Vertrauensdynamiken in Unternehmen quantifizieren und sichtbar machen können. Die Vision hinter dieser Produktidee ist, dass wir Unternehmen dahin bringen, durch ein gesundes Mass an Vertrauen effektiver zusammenzuarbeiten.
Herr Diekhöner, danke für das Gespräch.
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Philipp Kristian Diekhöner ist Managing Partner der Strategieberatung Denkfabrik Digital. Er wurde als St. Gallen Symposium Leader of Tomorrow, Global Shaper des Weltwirtschaftsforums und Fellow der Kairos Society ausgezeichnet.
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Philipp Kristian Diekhöners Buch The Trust Economy ist auf Deutsch, English und Chinesisch erschienen.