Into the New Wild

Am Ende des 19. Jahrhunderts versprach der auf dem Schoss unter der Schulbank geöffnete Atlas noch Abenteuer und Entdeckungen: Verschiedene, im Inneren des afrikanischen Kontinents liegende Gebiete waren noch gänzlich unbekannt, und man suchte nach den legendären Quellen des Nils.

Im Gewirr der Regenwälder des Amazonas verbargen sich Tempel vergangener Zivilisationen oder auch ausgestorben geglaubte Tierarten. Die Polarregionen warteten auf heldenhafte Eroberer, die dort die Flaggen ihrer Nationen aufstellten.

Das 20. Jahrhundert hat die letzten geheimnisvollen Flecken ausradiert. Jeder erdenkliche Ort wurde erkundet, bereist, beschrieben. Satelliten beobachten die Erde ununterbrochen aus dem Orbit und Google Maps entgeht nichts. Der Tourismus scheint nur langweilige Wiederholungen identischer Erfahrungen zu bieten. Vor einiger Zeit hat jedoch eine sehr leise Revolution unseres Daseins auf der Erde stattgefunden. Zum ersten Mal in der tausendjährigen Geschichte der Menschheit haben Stadtbewohner die Landbewohner überholt. Täglich ziehen zweihunderttausend vor allem junge Menschen in die Stadt. Bis zum Jahre 2050 werden zwei Drittel der Weltbevölkerung (über sechs Milliarden Menschen) in hyper-verbundenen, intelligenten und nachhaltigen Global Cities leben. Die alten Bewohner der Berge und Wälder – Bauern, Hirten, Waldhüter und Köhler – verlassen ihr Land, um Stadtbürger zu werden. Jahrhundertealte Lebensformen werden zu Geschichten, die niemand mehr erzählt.

Fast unmerklich gewinnt die Wildnis die Oberhand über diese Flächen zurück: In Italien ist es in einem Zeitraum von zehn Jahren zur Verwilderung einer Fläche von sechstausend Quadratkilometern gekommen. Dabei handelt es sich nicht nur um Naturparks oder Naturschutzgebiete, also Gebiete, die vollkommen sich selbst überlassen werden und zu denen Menschen keinen Zutritt haben (ein gutes Beispiel hierfür ist Valsolda am östlichen Arm des Luganer Sees). Die Natur nutzt jeden noch so kleinen Raum unserer urbanen Gesellschaft, um sich dort einzunisten. Selbst die temporäre Unterbrechung eines Zugangs (zum Beispiel durch einen Erdrutsch) reicht aus, um ein Gebiet zu isolieren. So ist es möglich, wenige Kilometer von grossen Städten entfernt, einem Wolf zu begegnen, in vernebelten Wäldern umherzuschweifen, in der Kirche einer verlassenen Ortschaft zu rasten. Das Verschwinden von nicht mehr genutzten Strassen und Wegen erledigt dann den Rest. Nach einigen Jahren erinnern nur noch wenige, immer undeutlichere Spuren an die Anwesenheit des Menschen: Nicht genutzte Bahnschienen, Brücken, Gruben, verlassene Ortschaften, hybridisierte Obstbäume, mit dichter junger Vegetation überzogene Terrassenkulturen, zerbröckelnde Trockenmauern… Wälder breiten sich auf einst genutzten Weiden und Feldern aus. Wildtiere vermehren sich frei und ziehen zwischen Ruinen umher.

Man muss nicht weit fahren, um Wildnis-Reisen zu erleben. Das in der italienischen Region Piemont, zwischen der Provinz Verbano und der Schweiz, nur wenige Kilometer von Mailand entfernt gelegene Val Grande ist das grösste unbewohnte Gebiet Europas. Das uralte Netz von Almen und Pfaden verwildert und die in vergangenen Jahrhunderten mühsam gebändigte Natur hat ihr unbezwingbares Haupt erhoben. Das in den Bergfalten zwischen Garda- und Idrosee gelegene Val di Vesta ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts isoliert und entvölkert, nachdem der Bau eines Staudamms den künstlich angelegten See Valvestino geschaffen hat. Und auch der italienische Teil des Onsernonetals ist mit dem restlichen Italien nur über hohe Bergpässe verbunden, die im Winter zugeschneit und unpassierbar sind.

Die Engländer sprechen in diesem Zusammenhang von Wilderness. Ein Wort, das aufgrund des Fehlens einer italienischen Entsprechung auch in den italienischen Sprachgebrauch übernommen wurde. Wilderness ist zugleich ein Raum als auch ein Gefühl von Wildheit. Denn versteckt inmitten der in den Städten lebenden anonymen Menschenmassen gibt es noch Menschen, die sich ihrer wilden Abstammung gewahr sind. Auch zwischen dem künstlichen Licht und den Geräuschen der Stadt genügt ein Windstoss aus den Bergen, der den Geruch des Waldes mit sich trägt, um alte, schlummernde Bande neu zu beleben. Einer dieser Menschen war Henry David Thoreau, nonkonformistischer amerikanischer Philosoph, der sich 1845 für zwei Jahre in die Wälder am Ufer des Walden-Sees in eine selbst gebaute Hütte zurückzog, um ein inniges Verhältnis zur Natur zu suchen und sich selbst zu finden. Oder auch Gary Snyder: „Als Dichter bewahre ich die archaischsten Werte der Welt, deren Ursprung bis in die späte Steinzeit zurückreicht: die Fruchtbarkeit des Bodens, die Magie der Tiere, die visionäre Kraft der Einsamkeit, der erschreckende Beginn und die Wiedergeburt, die Liebe und Ekstase des Tanzes, die gemeinsame Arbeit des Stammes.“

Eine Reise in die Wilderness löst die zahlreichen Fesseln der Gesellschaft: Sie erweckt unsere Fähigkeit zu fühlen, uns um uns selbst zu kümmern, allein zu sein und unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

➝ OPEN READ
Valentina Scaglia, Wilderness in Italia. A piedi nei luoghi del silenzio,
Milano, 2019. Nur auf Italienisch erschienen.
David Thoreau, Walden oder leben in den Wäldern, Zürich 2007

Gary Snyder, Lektionen der Wildnis, Berlin 2011

➝ OPEN NOTE
Claudio Visentin lehrt Geschichte des Tourismus an der Università della Svizzera Italiana in Lugano.

Photo credits: Natalino Russo, Valentina Scaglia.

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