Vergiss einfach, was der Rest der Welt denkt, um ihn, den Rest der Welt, wirklich zu entdecken.
Zehn Länder, die du 2019 unbedingt besuchen musst! Die zehn besten Städte als Reiseziele! Zehn unvergessliche Abenteuer, die du auf keinen Fall verpassen darfst! Jetzt oder nie: In Sachen Reisen scheinen Wunschlisten immer neue Wunschlisten hervorzubringen. Aber warum sehen die eigentlich alle gleich aus?
In seinem Buch Along the Road beschreibt der englische Autor Aldous Huxley: „Touristen sind grösstenteils ein ziemlich düster dreinschauendes Völkchen. Ich habe auf Beerdigungen schon fröhlichere Gesichter gesehen als auf dem Markusplatz.“ Und er schlussfolgert provokativ: „Man fragt sich, warum sie überhaupt reisen.“ Seiner Meinung nach, reisen wir oft nur, um zu tun, was die anderen auch tun, denn „es gilt als gesellschaftlich korrekt, gewisse Orte auf dem Erdenrund besucht zu haben; und wenn man dort war, ist man besser als die, die noch nicht dort waren. Ausserdem hat man dank des Reisens ein Gesprächsthema, wenn man nach Hause kommt.“
In Huxleys Zynismus und Snobismus liegt ein Körnchen Wahrheit. Reisen werden immer mehr konsumiert, was unweigerlich bedeutet, dass es sich an die Logik der Werbung, die selbst subtiler und effektiver geworden ist, hält: Unsere Neugier wird von Filmdrehorten, Zeitungsberichten oder dem Post eines bekannten Bloggers angeregt, ohne dass uns dabei der Gedanke kommt, dass das alles nur Teil einer sehr ausgefeilten Marketing-Strategie sein könnte.
Doch es gibt alternative Szenarien. Der in Zürich geborene Philosoph Alain de Botton glaubt, dass uns die Reisebüros der Zukunft Reiseziele auf Basis unserer individuellen psychologischen Bedürfnisse vorschlagen werden. So könnte zum Beispiel der Strand von Pefkos auf Rhodos, wo es zu heiss zum Lesen oder geschweige denn Denken ist, der perfekte Ort sein, um uns von unseren Ängsten zu befreien. Der Kopf wird einfach leer. Und die riesige Favela Comuna 13 am Stadtrand von Medellín in Kolumbien, wo selbst Dinge des täglichen Bedarfs ferner Luxus sind, wären das Traumziel für alle, die mit ihrem Leben nie zufrieden ist. Hier erfahren sie Genügsamkeit.
Wenn wir durch das Reisen Veränderung und persönliches Wachstum erfahren wollen, müssen wir uns von dem sozialen Druck befreien und die Freiheit, unsere Ziele selbst zu bestimmen, wieder neu entdecken. Im Jahr 2013, als Facebook und Instagram begannen, uns den ganzen Tag auf Smartphones zu begleiten, entstand auch das Konzept von FOMO, der Fear Of Missing Out, die stete Angst, etwas zu verpassen, nicht mit den „richtigen Leuten“ am „richtigen Ort“ zu sein. Doch seit einiger Zeit kultivieren Reisende bewusst eine ganz andere Einstellung: JOMO, die Joy Of Missing Out, die Freude daran, etwas zu verpassen, das Tempo zurückzunehmen und ebenso entspannt wie bewusst gegen den Strom zu schwimmen. Im Jahr 2016 erklärte das englische Wörterbuch Collins JOMO zu einem seiner Wörter des Jahres und definierte es als „die Freude daran, seine omentanen Aktivitäten zu geniessen, ohne sich Sorgen darüber zu machen, dass andere mehr Spass haben könnten.“
Die Philosophie des JOMO interpretiert auch das Reisen neu. In den 1970ern waren die einflussreichsten Reisenden Mitglieder des Jet Set: Neue, schnelle, kommerzielle Flugzeuge ermöglichten es ihnen, ihr Gesellschaftsleben auf fünf Kontinente auszuweiten. Man konnte in New York frühstücken, in Paris zu Mittag essen und sich am Abend noch in Rom dem Dolce Vita hingeben. Aber in der Ära billiger Flugtickets wirkt dieser Luxus seltsam antiquiert. Weshalb sich heutige Trendsetter eher als Teil des Gypsets sehen. Dieser Begriff, vom englischen Wort für Zigeuner abgeleitet, wurde von der Journalistin Julia Chaplin in ihrem Buch Gypset Style geprägt.
Gypset Style steht für einen radikalen Paradigmenwechsel: Keine goldenen Käfige, Luxushotels oder Restaurants mit Michelin-Sternen mehr. Stattdessen sind Reisen in der Holzklasse und ein schmales Budget angesagt, auch wenn man sich mehr leisten könnte. Man nutzt öffentliche Verkehrsmittel, schläft in einfachen Unterkünften (oder gar in Zelten) und geniesst Streetfood auf den Strassen asiatischer Grossstädte. Ist das das neue Reisen? Die am wenigsten befahrene Strasse zu nehmen, die Langsamkeit zu kultivieren, die kreative Ader durch Schreiben, Fotografieren und Zeichnen zu fördern, sich der virtuellen Community zugunsten der echten Welt zu entziehen und mit den realen Menschen des Gastlandes in Kontakt zu kommen. Denn gerade dieser letzte Aspekt ist ganz wesentlich: Ohne die Menschen, die an einem Ort leben, ohne deren kulturelle Eigenheiten und deren Fülle an Menschlichkeit macht das Reisen einfach keinen Sinn: Denn wir reisen, um beides zu erkunden, uns selbst und die Welt, die uns umgibt.
Photo credits: Natalino Russo