Es ist kurz vor Sonnenaufgang, als die Männer unter ihren Decken hervor kriechen und beginnen im Halbdunkel des Strandes nach ihren Stäben zu tasten. Für die Schäfer aus San Giovanni a Piro, einer kleinen Gemeinde ganz im Süden der italienischen Region Campania, ist heute der Tag der Schafschur, der mit einem kurzen Sprung ins Meer beginnt. Für die Schafe.
Wie jedes Jahr haben sie die Schafe vier Stunden vom Bergdorf hinunter zum Meer zur Cala degli Infreschi getrieben, einer kleinen, aber unberührten Bucht, die nicht mit dem Auto zu erreichen ist. Dort haben sie auch die Nacht verbracht. Der August spült gewöhnlich auch Urlauber in Booten an den Kiesstrand, aber an diesem Morgen Anfang Mai im Schatten der Klippen liegt Stille über der Bucht. Ausser dem Meer, das die Steine umspült, dem gelegentlichen Bellen eines weissen Maremma-Schäferhunds und dem Blöken und Meckern der Schafe und Ziegen ist nichts zu hören.
Die Schur selbst findet später im Dorf statt, der erste Teil dieses jährlichen Rituals besteht jedoch darin, die Tiere vorher im Meer zu säubern. Nun ist das Meer nicht gerade der natürliche Lebensraum des Schafs. Daher bedarf es einer gewissen Überredungskunst, um sie hinein zu bekommen. Und hier kommt der Wolf ins Spiel.
Ein Wolf im Schafspelz
Der Wolf – il Lupo – ist der Spitzname von Saverio, des unangefochtenen Rudelführers. Sein ganzes Leben lang, wie schon sein Vater und dessen Vater vor ihm, hat er Ackerbau betrieben und sich um Tiere gekümmert. Und heute sind sein erwachsener Sohn, sein Schwiegersohn und dessen Bruder alle mit ihm am Strand. Aber in seinem Spitznamen liegt Wahrheit:
Sein Schnurrbart ist dicht, sein Gesicht vom Wetter gegerbt, er kann rau und einzelgängerisch wirken, ist schlau und bekannt für sein Heulen. Es scheint wie eine Umkehrung der natürlichen Ordnung. Die Schafe wurden dem Wolf anvertraut.
Er bellt scharfe Befehle, die von den plötzlich aufgeregten Hunden erwidert werden, und treibt die Schafe über einen schmalen Pfad zum Fuss einer felsigen Landzunge, die ins Meer hinaus ragt. Unter den wachsamen Augen der jüngeren Schäfer, die weiter oben auf dem Pfad warten, versenkt der Wolf seine rauen Hände in der Wolle des Leitschafts, packt es und schleudert es ins Meer.
Das Tier plumpst schwer ins Wasser, taucht wieder auf und schwimmt die 50 Meter zurück an den Strand, wobei nur Kopf und Ohren an der Oberfläche zu sehen sind. Der Rest der umherschwirrenden Schafe wird seinem Ruf gerecht: Sie folgen ihrem Leitschaf, klettern über die Felsen und springen eines nach dem anderen ins Meer.
Die Schafschur
Später zurück im Dorf werden die Schafe direkt in ihr Gehege im Schatten einer gewaltigen Eiche getrieben. Die Schafe, die sich auf eine Seite der Einfriedung drängen, beäugen die Männer misstrauisch, während diese eine abgenutzte Plane im Gras ausbreiten und beginnen, ihre Werkzeuge auszulegen: Handscheren, die nicht wirklich wie Scheren, sondern eher wie zwei Küchenmesser aussehen, die am Ende durch eine Stahlschlaufe verbunden sind, Dosen mit antibiotischem Desinfektionsmittel und Seilstüke, um die Hufe der Tiere zu fesseln. Die Schäferhunde positionieren sich rund um das Gehege, legen sich hin, strecken sich und beobachten die kontrollierte Situation nur noch müssig. Dann beginnt die Schur, eine chaotische Arbeit. Viele der Schafe fügen sich, aber manche zerren an den Fesseln, was es den Männern doppelt erschwert, die zappelnden Schafe still zu halten, um sie während der Schur nicht in die Haut zu schneiden. Falls ein Schaf geschnitten wird, besonders von einem weniger selbstbewussten, jungen Schäfer, klafft eine kleine, nicht blutende, rosa Wunde wie ein Augenlid in der losen Haut. Die Wunden werden mit einem grell blauen, grünen oder roten Spritzer Desinfektionsspray behandelt, der das geschorene Tier vor Infektionen schützt. Sie sehen danach wie Punk-Veteranen nach dem vierteljährlichen Friseurbesuch aus.
Bei den erfahreneren Schäfern erscheint die Schur jedoch eher wie eine Zusammenarbeit zwischen Mensch und Tier. Der Schwager des Wolfs, der mit seinem quadratischen Kopf, breiten Nacken und Händen wie Schraubstöcken wie ein Panzer gebaut ist, muss die Schafe kaum festhalten, sobald sie gefesselt auf der Seite liegen. Stattdessen umschliesst seine rechte Hand die Schere und schneidet geschickt die Wolle, während die linke Hand sanft das dicke, unbeschädigte Vlies zur Seite drückt. Nach der Schur vergraben die nackten und verlegen wirkenden Schafe ihre Nasen in den Flanken ihrer Artgenossen.
Fröhlich witzelnd und stolz auf die geleistete Arbeit setzen sich die Männer, um das Festmahl zu geniessen, das die Frauen vorbereitet haben. Die Ehefrauen, Mütter und Töchter haben gelegentlich eine Pause eingelegt, um den Männern bei der Arbeit zuzusehen. Gebratenes Schweinefleisch, Crêpes, frischer Käse und Wein werden bei dieser Gelegenheit ausgiebig genossen.
Währenddessen wartet der Wollhaufen, der in etwa so gross ist wie ein Fiat Panda, auf sein Schicksal. Aber es gibt keinen Markt mehr für diese Wolle. Die Menge ist zu gering, die Methoden sind zu primitiv, und der Markt ist zu umkämpft. Ausserdem ist das Dorf zu weit von möglichen Wollverarbeitungszentren entfernt. Keiner der lebenden Schäfer in San Giovanni a Piro erinnert sich daran, dass ihre Wolle je verkauft wurde. Aber sie pflegen das Ritual und halten die Tradition des Frühlingsputzes am Leben: Jahr für Jahr waschen sie ihre Schafe im Meer.
Photo credits: Kyle Dugan