“Mit der Schrift habe ich ein Mittel für die Weisheit gefunden,” ruft der altägyptische Gott Theut mit seinem Kopf eines weissen Pavians, mythologischer Vater der Schrift und Schutzherr der Wissenschaft seinem König Thamos zu. Doch der ist wenig begeistert. Im Vertrauen auf die Schrift würden die Menschen ihr Gedächtnis vernachlässigen, hält er dagegen, darum sei die Schrift der Rede gegenüber minderwertig. Aber die Schrift setzt sich durch und so wie sie sich verändert und komplexer wird, entwickeln sich die Werkzeuge, mit denen sie aufgeschrieben wird.
Schrift ist ein System graphischer Zeichen zur Aufzeichnung gesprochener Sprache. Sie macht das gesprochene Wort dingfest. Doch nicht nur das, auch das Ungesagt wird festgehalten, auch der Gedanke nimmt in der Schrift Form an. War es in vorschriftlichen Zeiten noch das Ohr, das die Kommunikation dominierte, wird dies mit der Schrift durch das Auge ersetzt. Ohne Schrift lebten Menschen in einer Welt von Gefühlen, Intuitionen und Angst. Völker ohne Schrift lauschen auf Geschichtenerzähler, die ihnen im Dunkel der Nacht atemberaubende Erzählungen vortragen. Mit der Einführung der Schrift jedoch drängt das Alphabet das Ohr zu Gunsten des Auges in den Hintergrund. „Der Mensch bekam ein Auge für ein Ohr“, schreibt Marshall McLuhan.
Die Hand, die im 15. Jahrtausend vor der Zeitrechnung noch die Höhlenwand direkt bemalt, schafft sich schnell ein Werkzeug, ein Gerät, für die Darstellung des gesprochenen Worts. Natürlich verändert sich mit jedem neuen Schreibgerät das zu beschreibende Material. So wird über die Zeit aus Fels Ton, dann Wachs, Leder, Knochen, Pergament, Papier, schliesslich der digitale Bildschirm; die Hand greift zu Kohlestücken, dann zu ritzenden, schabenden Steinen, Zeichen drückenden Griffeln, schreibenden Federkielen, Stiften, bedient sich elektronischer Tastaturen. Mit jedem neuen zu beschreibendem Material wird das Schreibgerät anspruchsvoller. Die Schrift beendet das Gerede, hofft der Gott Theut. Der Geschichtenerzähler verstummt und was einmal das gemeinsame Erleben von Geschichten war, wird zur individuellen Erfahrung und aus dem Lauschen auf die Worte des Troubadours, vielleicht des Hofnarren, wird das Lesen von Büchern.
Das Wort, das geschriebene Wort gewinnt an Macht und verbreitet sich immer schneller. Elektronische Schrift, direkter Zugang also zum geschriebenen Wort an jedem Punkt der Welt zu jedem Zeitpunkt via Computer und Internet, stellt die grösste Revolution dar und im Zuge dieser Revolution werden Spracherkennungsprogramme zum immer feineren Ohr, und das gesprochene Wort erneut zum Medium, das sich aufgezeichnet in Schrift verwandelt.
Der Kreis schliesst sich, Auge und Ohr treffen sich, und diese Fusion öffnet dem Einzelnen den Rückzug ins Individuelle für das langsame Verfertigen seiner Gedanken durch sein ganz eigenes Schreiben.
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Marshall McLuhan: The Medium is the Massage, 1967.