Patagonien ist ein Versprechen. Der Name klingt wie kaum ein anderer nach wilder Natur am Ende der Welt. Und wenn man sich so nennt und das Versprechen des Namens ernst nimmt, kann es sein, dass man am Ende alles ein bisschen anders macht als die anderen. Die Geschichte eines Versuchs, sich treu zu bleiben.
Nur wenige Branchen leben so stark von der Bilderwelt unberührter Natur, von nie begangenen Pfaden, von Abenteuer und Freiheit: Outdoor heisst Abschied von Konventionen und zivilisatorischem Überfluss. In dieser anderen Welt musst du ehrlich zu dir selbst und anderen sein. Wenn du überleben willst, bist du auf dich allein gestellt und beschränkst dich auf das Wesentliche, denn alles andere wäre eine unnötige Last, die nur Anfänger mit sich rumschleppen.
In der Geschichte des Outdoor-Spezialisten Patagonia gibt es immer wieder mutige Grenzüberschreitungen, als wäre das Unternehmen selbst eine einzige Expedition in das Land, das ihm den Namen gibt. Und weil das nun mal dazugehört, verläuft man sich auch manchmal und muss zurück zum Basislager. Der Gründer von Patagonia, Yvon Chouinard, wollte immer nur Klettern, Tauchen und Surfen. Manchmal brauchte er dazu Dinge, die er in keinem Laden fand, also stellte er sie sich selbst her, erst für sich, dann auch für andere. Der Spruch, alle haben gesagt, das geht nicht, bis einer kam, der das nicht wusste, und es einfach gemacht hat, könnte von ihm stammen. Er pflegt den Mythos, dass er eher in die Wildnis als in die Chefetage eines Unternehmens passt, und schreibt darüber ein Buch, das zur Pflichtlektüre von BWL Studenten in den USA wird. Managing By Absence, nennt Chouinard den MBA, der ihn für seine Geschäftstätigkeit qualifiziere.
Aus den Bildern und Werten, die der Name Patagonien in sich trägt, hat er ein Geschäftsmodell entwickelt, dessen Erfolg auf radikaler Kohärenz basiert: Vermeide ausgetretene Pfade, denn da sind schon alle anderen. Und während das in der Wildnis für ein einsames Naturerlebnis sorgt, garantiert es in der Routine des Alltags genau das Gegenteil: maximale Aufmerksamkeit von allen Seiten. 2011 schaltet Patagonia eine ganzseitige Anzeige in der New York Times: „Kaufen Sie diese Jacke nicht!”. Eine gewagte Aufforderung am Schwarzen Freitag, dem höchsten Feiertag des Konsums, der alljährlich Ende November den umsatzstärksten Tag des amerikanischen Verkaufsjahrs markiert. In der Abenteuer-Logik Patagonias ist diese Aufforderung aber ein folgerichtiger Schritt.
Die Anzeige zeigt nicht nur die Jacke, die bitte nicht gekauft werden soll, sondern listet auch penibel die Gründe auf, warum man sie nicht kaufen sollte. Sie rechnet vor, dass die Herstellung der abgebildeten Jacke 135 Liter Wasser erfordert habe, was dem Tagesbedarf von 45 Menschen gleichkomme. Bei ihrem Transport ins Lagerhaus seien beinahe zehn Kilo CO2 entstanden oder 24 Mal das Eigengewicht der Jacke. Und unter dem Strich seien zwei Drittel des Gewichts als Abfall liegen geblieben.
Alles gute Gründe, Kleidung lieber reparieren zu lassen, zu recyceln oder einfach länger zu tragen, als sich noch eine Jacke zu kaufen. Eine riskante Kampagne? Eher nicht. Das Unternehmen projiziert die Wertewelt Patagoniens in die Shopping-Malls Manhattans, lässt einen wilden Stier über den konsumwuseligen Times Square galoppieren – und sichert sich so maximale Aufmerksamkeit. Es baut darauf, dass die Bereitschaft, mehr für Produkte auszugeben, die versuchen, positiv auf soziale und ökologische Prozesse Einfluss zu nehmen, weltweit zunimmt. Der Umsatz Patagonias hat sich von 2008 bis 2015 verdreifacht und ist auf 750 Millionen US-Dollar gestiegen. Die Produkte verkaufen sich bestens: nicht trotz, sondern wegen solcher Anzeigen.
In seiner Black Friday Kampagne 2016 kündigt Patagonia an, den gesamten Tagesumsatz Umweltschutzgruppen zu spenden. Statt der erwarteten zwei Millionen Dollar Umsatz, kommen am Ende zehn Millionen zusammen. Die Menschen geben gern mehr aus, für das gute Gefühl, Teil einer Bewegung sein zu dürfen. Es gehört zum Konzept, dass der Erlös bewusst an kleine Initiativen geht. Die Graswurzelbewegung passt besser ins Bild von Wildheit und Natur als bürokratische Apparate und gut bezahlte Funktionäre.
Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos wurde Patagonia mit dem Accenture Strategy Award for Circular Economy Multinational ausgezeichnet. Womit die Wilden endgültig bei den Nadelstreifen angekommen wären – ohne sich den passenden Anzug anzuziehen. Prämiert wurde das 2013 eingeführte Worn Wear Programm, die Umsetzung des in der Anzeige von 2011 angekündigten Paradigmenwechsels von New is Better zu Better than New. Patagonia ermutigt die Menschen nicht nur, ihre Kleidungsstücke möglichst lange zu tragen, es bietet auch Dienstleistungen an, die dies ermöglichen: Einen zentralen Reparaturservice, der im Jahr über 45.000 Kleidungstücke repariert, und Reparaturtrucks, die durch die USA und Europa touren, in denen Kunden ihre Jacken abgeben können, um Löcher stopfen und Risse nähen zu lassen, übrigens auch die anderer Anbieter. Und weil echte Wildnis-Freunde wissen, was es bedeutet, auf sich allein gestellt zu sein, werden die, die es wollen, über die Website mit kostenlosen Werkzeugen für die Reparatur der eigenen Kleidung versorgt.
Wer aber Aufmerksamkeit nicht nur für Megathemen wie Klimawandel, soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit generiert, sondern auch von der Relevanz dieser Themen profitiert, macht sich angreifbarer als andere. Regelmässig sieht sich Patagonia mit harscher Kritik konfrontiert, Missstände werden aufgedeckt, die am Bild des verantwortungsvollen Unternehmens kratzen. Schlechte Sozialstandards in asiatischen Produktionsstätten werden publik gemacht, und auch die Wolle scheint aus Betrieben zu kommen, die kaum den Anforderungen artgerechter Haltung entsprechen. 2010 wird Patagonia beschuldigt, Daunen von Stopfgans-Farmen in Ungarn zu verwenden, auf denen die Tiere lebend gerupft werden.
Patagonias Reaktion ist bemerkenswert: Die Vorgehensweise folgt der Logik einer Expedition, die dankbar ist, von anderen Wanderern Informationen zu bekommen, um den Weg zu korrigieren und doch noch anzukommen. Kritik wird auf eigenen Plattformen unzensiert veröffentlicht, um gleichzeitig aufzuzeigen, welche Massnahmen eingeleitet werden. Es wird auch klar formuliert, dass dem Streben nach verantwortlichem Handeln Grenzen gesetzt sind: Patagonia, schreibt Chouinard in seinem Buch, will never be completely socially responsible. It will never make a totally sustainable, non-damaging product. But it is committed to trying. We simply don’t have any other choice. As the late environmentalist, David Brower, once put it, “There’s no business to be done on a dead planet”.
In den Stories We Wear auf den Online-Plattformen des Unternehmens erzählen Menschen Geschichten wie die von einem Sonnenhut, der seinen Besitzer, einen leicht ergrauten Surfer, schon seit über 30 Jahren auf seinen Reisen begleitet. Der mehrfach geflickte Hut hat eine emotionale Wertigkeit, die ein neuer Hut, wenn überhaupt, sich erst in vielen Jahren erarbeiten müsste. Für Patagonia sind es nicht Kleider, die Leute machen, sondern es sind Menschen, die Kleider zu etwas machen, das mehr ist, als eine Textilie. Ihre Wertigkeit liegt nicht in ihrer schnell verdunstenden Neuheit, sondern darin, dass sie erst durch den Gebrauch zu Originalen werden, unverwechselbar und authentisch.
Natürlich sind diese Stories perfekt inszeniert. In ihrer Welt gibt es keine schicken Laufstege, sondern nur eine überwältigende Natur, keine schönen Models, sondern nur sympathische, eher verschlossene Menschen mit Ecken und Kanten, keine leeren Worthülsen, sondern nur erlebnisgesättigte Geschichten. In ihnen spürt man die ganze Sehnsucht des Helden in Sean Peans Film Into the Wild.
Doch bevor man dieser Sehnsucht nachgibt, und wer würde das nicht gern, hilft vielleicht doch erstmal eine neue Jacke.
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patagonia.com
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Yvon Chouinard, Let my people go surfing, 2006