Wer nicht widerspricht, fliegt raus!

 
Alle lieben das Original und das Originelle. Wirklich?

Seien wir mal ehrlich: Originalität ist in vielen Organisationen eher ein Störfaktor und diejenigen, die „originell“ sind – schon das Wort spricht Bände -, gelten bestenfalls als Querdenker. Mit der Zeit haben wir uns eine ganze Armada von Abwehrsätzen ausgedacht, um das Originelle möglichst schon im Keim zu ersticken: Das haben wir immer so gemacht. Mal abwarten. Das ist mir etwas zu sehr um die Ecke gedacht.

Das Originelle verletzt die Grenze des Bestehenden, weil es gegen Konventionen und Althergebrachtes verstösst und so den Blick auf etwas Neues öffnet. Es ist abweichend, ein Abenteuer und keine Routine. Genau deswegen gefährdet es die Stabilität einer Organisation: Es stellt in Frage, was nicht in Frage zu stellen ist. Aus diesem Grund gelten Originale oft als anstrengend: Es braucht Energie, sich mit Ideen zu beschäftigen, mit denen man nicht vertraut ist. Muss man sich das antun? In einer Gesellschaft, in der Nachahmer den Ton angeben, Minister Doktorarbeiten abschreiben, Logos, Hundeleinen und eigentlich alles kopiert und das mittlere Management gern in Kreativ-Seminare geschickt wird, nur um nachzuplappern, was andere ihm erzählen, ist Originalität ein seltenes Gut. Und je seltener etwas ist, desto häufiger führen wir es im Munde. Das ist wie beim Rhinozeros, das proportional zur Wahrscheinlichkeit seines Aussterbens seine Fernsehpräsenz erhöht. Google zeigt nach 0.63 Sekunden Suchzeit 36 Millionen Ergebnisse für „Originality“. Insofern trauen Sie denen erstmal nicht, die von sich sagen, sie seien Originale. Wer eins ist, der sagt es nicht, meistens zumindest.

Wir wissen, wenn man einzelne Teilnehmer einer Gruppe bittet, allein Lösungsvorschläge zu einem Problem zu erarbeiten, liegt die Qualität der Ideen deutlich über denen, die ausschliesslich in einer Gruppensituation erarbeitet werden. Aber nicht nur deswegen erfolgt der langsame Erstickungstod des Originellen in Organisationen und Unternehmen durch so genanntes Gruppendenken. Das Wort sollte nachdenklich stimmen. Gruppendenken ist der übliche Modus langer Meetings, bei denen die Ergebnisse schon vorher feststehen. Solche Arbeitsgespräche dienen meist der Konsensbildung und vermeiden jede Auseinandersetzung, was die Teilnehmer im Regelfall schon im Vorfeld dazu bewegt, jeden Zweifel für sich zu behalten und sich der dominanten Meinung anzuschliessen, selbst wenn sie meinen: So wird das nichts.

Statt der Vielfalt des Denkens wird eine gedankliche Monokultur gepflegt, mit all ihren fatalen Folgen für das Ökosystem des Unternehmens, das sich am Ende als triste Palmölplantage präsentiert. ruppendenken schafft organisatorische Dinosaurier mit inzestuöser Weltwahrnehmung, die unfähig sind, auf neue Herausforderungen schnell und richtig zu reagieren. Kodak, Polaroid, Nokia, Blackberry – die Liste ausgestorbener Dinosaurier ist lang. Und auch wenn jedes dieser Unternehmen seine eigene Geschichte hat, ist allen gemein, dass sie sich nicht für Alternativen geöffnet haben, als es notwendig war.

Die Fallen des Gruppendenkens lauern überall. Wo „Team“ und „Gruppengeist“ besonders lautstark beschworen werden, lohnt es, die Wirklichkeit genauer anzuschauen. Oft sind diese Schlagwörter weniger als Aufforderung zu aktiver Teilnahme gemeint, nicht selten dienen sie stattdessen zur Disziplinierung und Unterordnung. Hinter ihnen steckt der unausgesprochene Wunsch, sich mit getreuen Gefolgsleuten zu umgeben, die nicht widersprechen, um endlich in Ruhe das zu tun, was man meint, tun zu müssen.

Ganz deutlich wird das, wenn man weiss, dass das starke Wir-Gefühl, das wir gemeinhin mit Gruppendenken verbinden, genau das Gegenteil von Gruppendenken bewirkt. In einer Studie, die der Sozialpsychologe Adam Grant in seinem Bestseller Originals zitiert, kamen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Gruppen, die ein starkes Wir-Gefühl entwickelt haben, „mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihren Rollen genügend gefestigt sind, um einander zu widersprechen.“ Ein starkes Wir-Gefühl ermöglicht Widerspruch, hat also nichts mit Gruppendenken zu tun, das divergentes Denken neutralisiert.

Wichtig: Abweichende Meinungen sind hilfreich, selbst dann, wenn sie falsch sind. Gerade in Situationen, wenn er am schwierigsten zu ertragen ist, ist Dissens nützlicher als bequemer Konsens. Gerade wenn die Routine nicht mehr funktioniert, wenn der Status Quo Probleme aufwirft, sorgt ein Denken, das mit Konventionen bricht, für neue Lösungsansätze. Die Einladung zum Widerspruch ist nicht nur die Basis jeder Originalität, sie ist ein ökonomisch relevanter Erfolgsfaktor.

Bleibt die Frage, wie sich eine Unternehmenskultur aufbauen lässt, in der Originalität, die als anderes, offenes Denken verstanden wird, auch wirklich ihren Platz findet. Der amerikanische Vermögensverwalter Bridgewater Associates versucht es zumindest. Bridgewater verwaltet für institutionelle Anleger mehr als 150 Milliarden Dollar und gilt als eines der weltweit erfolgreichsten Unternehmen. Surft man über die Website von Bridgewater liest man als erstes diesen Text:

Radical truth and radical transparency. Openly and thoughtfully disagreeing on important issues is the most powerful way of creating meaningful work, meaningful relationships and great outcomes.

Bridgewater ermutigt die Mitarbeiter, originelle Ideen zu äussern: Schon im Auswahlprozess spielt ihre Fähigkeit, Kritik zu äussern und Kritik zu akzeptieren eine wichtige Rolle. In den Unternehmensgrundsätzen stehen Sätze wie Niemand hat das Recht, seine Kritik zurückzuhalten. Und das gilt auch für den einfachen Kundenbetreuer, der dem Gründer und Inhaber Ray Dalio, nach einem Meeting in einer Mail schreibt: „Es war sonnenklar, dass du heute nicht vorbereitet warst, so unorganisiert, wie du losgelegt hast. Wir hatten dir gesagt, dass wir uns diese Chance nicht entgehen lassen dürfen – das war wirklich Mist heute … sowas darf nicht wieder vorkommen.“

Was in den meisten Unternehmen Selbstmord gewesen wäre, führt bei Bridgewater dazu, dass der Chef die anderen Teilnehmer des Meetings auffordert, ihm auch ihre Rückmeldung zu schicken, statt seine Fehlleistung zu kaschieren. Das ist kein Kuschelkurs, aber es sorgt dafür, dass keine mediokre Gemütlichkeit entsteht, in der ehrliche Meinungen nur tuschelnd hinter verschlossenen Türen ausgesprochen werden. Damit sich die besten Ideen durchsetzen – auch wenn sie von der des Chefs abweichen –, bedarf es einer Meritokratie der Ideen, in der sich jeder seine Glaubwürdigkeit erarbeiten kann.

Forschungen belegen übrigens, dass so genanntes Oberflächenhandeln, das Vorspiegeln von Emotionen, die wir nicht wirklich empfinden, also divergente Gedanken nicht auszusprechen und stattdessen freundlich zustimmend zu lächeln, zum Burn-out führt.

Es setzt unter Stress und laugt aus. Das sollten wir uns nicht antun.

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Adam Grant, Originals, New York 2016

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