Lieber Kuli,
immer wenn ich mal wieder in einer dieser trostlosen Konferenzen sitze, die du durch unsere kleinen klandestinen Kritzeleien erträglich machst, merke ich, wie wichtig du mir bist. Es wird Zeit, dass ich dir ein paar Zeilen schreibe: Weil ich dich viel zu oft so hinnehme, als wärst du eine Selbstverständlichkeit.
Du hast das Schreiben für alle zugänglich gemacht und vom elitären Muff des Federhalters befreit. Du bist bescheiden und grundsympathisch, Status und Anerkennung interessieren dich nicht. Ob arm oder reich ist dir so was von egal, dass es fast schon rührend ist. Du bist kein Snob, du wanderst gern von Hand zu Hand. Du willst nicht besessen werden, du bist einfach nur da, hast auf diese Weise ein globales System geschaffen, frei und uneigennützig, weil man dich überall findet, egal wo man gerade ist, selbst im Weltall warst du schon.
Die Statistiker sagen, jeder Europäer hat 13 von deinen Kollegen auf dem Schreib- und Küchentisch oder versteckt in Schubladen. Meine 23 habe ich zum Appell bestellt und frisch durchgezählt.
Jetzt, in diesem Moment, sorgen gerade Milliarden deiner Verwandten dafür, dass Kinder schreiben lernen, Einkaufszettel geschrieben und Hedgefond-Verträge unterschrieben werden. Wobei man dich nicht für alles verantwortlich machen kann, was die Menschen mit dir treiben.
Du hast die Welt wirklich verändert, mein Lieber. Schwer vorstellbar, wie sie heute aussähe, hätte László Biró dich 1938 nicht zum Patent angemeldet. Dein Erfinder musste wenig später vor den Nazis fliehen, und fast wärst du in irgendeiner Akte des ungarischen Patentamts vergessen worden. Doch 1943 erneuerte Biró im argentinischen Exil dein Patent. Und dann ging’s los. Der erste grössere Auftrag deiner Geschichte ging ans britische Militär, das dann gegen die Kuli-losen Gesellen vorging, die deinen Erfinder ein paar Jahre vorher aus Ungarn verjagt hatten. So hast du ein bisschen mit für Gerechtigkeit gesorgt. Übrigens hat dein kluger Erfinder das Prinzip des Kugelschreibers auch noch zum Deo-Roller weiterentwickelt.
Du kannst verführerisch schön sein, wie der samtblaue Kollege, der gerade vor mir liegt. Aber es ist deine innere Schönheit, die strahlt, wenn du weich und entspannt über das Papier gleitest, kein Kratzen Schreibfluss und Ohr stört, und du weder eine schmierige Spur noch irgendwelche Flecken hinterlässt, dann ist es mir fast schon egal, wie du aussiehst. Dann bist du von innen schön.
Zuweilen betrüge ich dich, lasse dich auf dem Schreibtisch links liegen und schaue auf den Bildschirm statt aufs Papier. Mit schlechtem Gewissen und latenter Sehnsucht, denn du bist unersetzlich, weil deine tiefblauen Linien immer auch kleine Fluchten sind, nicht nur während Konferenzen.
Dass oft so leichtfertig mit dir umgegangen wird, daran bist du auch selbst schuld: Wenn man gerade keinen deiner Brüder und Schwestern zur Hand hat – irgendjemand findet sich immer, der einen Kuli hat. Oft einen, den irgendwann irgendjemand irgendwo selbst mitgenommen hat. Hotels und Kollegenschreibtische sind die erfolgversprechendsten Fundorte.
Und weil ich dich, mein samtblauer Kleiner, für mich und nur für mich behalten will, habe ich mit meinen Zähnen kleine Spuren auf dir hinterlassen. Ich weiss, das macht dich nicht schöner, aber es ist mein persönliches Markenzeichen. Und es funktioniert, meistens jedenfalls.
Dein Schreiber
PS: Eigentlich sollte dieser handschriftliche Brief im Original gedruckt werden, nur hätte niemand meine Handschrift lesen können. Dafür kannst du nichts. Du bist uneitel, dir ist es egal, wie man mit dir schreibt. Auch das macht dich so wunderbar.