Lasst mich was fühlen!

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Die Sehnsucht, die Blume nicht nur auf dem Touchpad, sondern auch im Garten zu berühren, wächst. Weil wir immer mehr Erfahrungen in Bereiche verlegen, in denen sinnliche Wahrnehmungen eingeschränkt sind, werden Momente immer wichtiger, die alle Sinne ansprechen.

High Touch ist nur die andere Seite von High Tech schrieb schon John Naisbitt 1982 in seinem Klassiker „Megatrends“.

Fast möchte man sagen, es gab Zeiten, da waren Oberflächen noch Oberflächen. Aber das stimmt nicht ganz – auch wenn Google diesen Eindruck erweckt: Denn wer heute online nach Oberflächen sucht, findet fast ausschliesslich solche, die gar keine sind: Computer-Oberflächen. Dabei wissen die Hersteller genau um die Macht des Berührens und stellen ihnen am liebsten ein „Touch“ zur Seite. Doch diese Oberflächen vermitteln alles, nur keine haptischen Erfahrungen. Sie belohnen unsere Berührung mit optischen und akustischen Reizen, wechseln also das Spielfeld, weil sie mit dem Tastsinn nicht umgehen können – noch nicht. Während Berührungen normalerweise sehr intensiv erlebt werden, einen ganzen Sturm von Assoziationen in unserem Gehirn auslösen, bleibt die Berührung des Bildschirms seltsam leer. Irgendetwas scheint tatsächlich verloren zu gehen, wenn wir Tasten und Bildschirme zwischen uns und die Welt setzen.

Aber es scheint nur so. Denn interessante Lücken bleiben nicht lange unbesetzt. Tatsächlich haben nicht nur Ingenieure, Designer und Psychologen die Oberfläche schon seit längerem wieder neu entdeckt. Die Automobilhersteller waren mit die ersten, nicht zufällig parallel zum Siegeszug der Computer. Anfang der 90er begannen sie damit, die Innenbereiche der Autos mit viel Aufwand zu multisensorischen Erlebnisräumen zu gestalten. Wie ein Lenkrad sich anfühlt, eine Tür zufällt und welche Beschichtung die beste für den Kopf am Radio ist, wurde nach dem individuellen Ansprüchen der Marke optimiert:
Wohlfühlen kommt von Fühlen. Heute wird das haptische Erleben eines neuen Handy-Modells nicht weniger bewusst gestaltet wie seine Software. Kippschalter, Sofas und Parfümflaschen sind längst auf ihren positiven haptischen Erfahrungswert als implizites Qualitätsmerkmal optimiert.

Die Oberfläche, die gerade noch zu verschwinden schien, ist an anderer Stelle wieder aufgetaucht. Vieles deutet darauf hin, dass sich besonders unser Tastsinn nicht so einfach verdrängen lässt. Tatsächlich schaffen wir ihm kleine und grosse Fluchten.

Dass wir Texte immer seltener auf gedrucktem Papier lesen, also nicht mehr mit den Fingern Seiten umblättern, mit den Fingerspitzen das raue Papier und in der Nase den Geruch von Druckerschwärze spüren, heisst noch lange nicht, dass wir weniger und schlechter lesen. Aber irgendetwas scheint uns auch hier zu fehlen. Und es ist spannend, wie ambivalent wir als Konsumenten auf die bi-sensorische Wahrnehmungsbeschränkung des Digitalen reagieren. Denn das gefragteste Accessoire von E-Books verwandelt den Reader wieder in ein Buch. Fast zumindest. Gut gemachte Cover sind oft so teuer wie der Reader selbst und sorgen dafür, dass wir ihn wie ein richtiges Buch öffnen und schliessen können und dass er sich anfühlt, wie ein mit einem weichem Ledereinband ausgestattetes Buch. Wir schaffen es also, die beiden Welten miteinander zu verbinden, weniger aus Nostalgie als aus sinnlicher Notwendigkeit: Unser Tastsinn sorgt dafür, dass er auf seine Kosten kommt.

Umfassender ist der Hinweis, den wir durch unser Freizeitverhalten bekommen. Weil wir uns während der Woche – oft freiwillig – durch Bildschirmarbeit auf Hör- und Seh-Wesen reduzieren, sorgen wir am Wochenende gezielt für Ausgleich. Nach der sinnlichen Durststrecke stimulieren wir die zwei Quadratmeter unserer Haut nach allen Regeln der Kunst, mit Massagen, Ölen, Bädern, Reiki oder Tango, weil Bewegung und Berührung alle Sinne involviert und uns wieder zu Menschen macht: „Wir leben auf“.

Weil wir intensive sinnliche Reize lieben, machen wir Köche zu Stars, denn was sie tun, lässt all unsere Sinne zusammen wirken – fühlen, riechen, hören, sehen und schmecken. Viele der neuen Helden sind Menschen, die das fast schon unverschämte Glück haben, ihre viel-sinnige Wirklichkeit ungebremst ausleben zu dürfen. Anders als wir. Wir zelebrieren Slow Food, wann immer wir können, weil Wahrnehmen Ruhe und Zeit braucht. Und wir trinken so viel guten Wein wie nie zuvor, weil jeder anders schmeckt und riecht und leuchtet – und die Differenz ein wunderbares Spielfeld für unsere Sinne ist, für alle auf einmal.

Wenn wir unsere Musik auf iPods oder Handys hören, ist der digitale Klang so perfekt, dass er manchmal fast das Leben aus der Musik verdrängt. Aber unsere Sinne suchen und finden auch hier Ersatz: Nicht nur Live-Konzerte sind so gut besucht wie nie zuvor, auch der Schallplattenspieler steht wieder im Wohnzimmer. Vinyl lässt uns Musik berühren: Wir nehmen die Platte aus der Hülle, fühlen und betrachten sie, und legen sie auf den Teller.

Natürlich fotografieren wir digital und gern mit dem Handy, aber gleichzeitig erlebt die Polaroid-Kamera eine Wiedergeburt. Sie ist nicht nur ein optisches Erlebnis, sondern ein sinnliches Ritual aus Bewegungen, Reiben, Fühlen, Sehen und Hören. Es ist unmittelbar und liefert ein Objekt, das wir anfassen, herumreichen und zeigen können. Das Erleben ist viel-sinnig und voll – und verschwindet nicht sofort auf einer Festplatte.

Und noch ein Makro-Indiz – wir reisen so viel und gerne wie nie zuvor, obwohl wir uns die schönsten Orte der Welt auf perfekt gemachten Videos anschauen können. Aber die Sehnsucht nach sinnlicher Erfahrung lässt sich durch Medien nicht stillen: Weil wir sie riechen wollen, die intensiven Gerüche in den Strassen Mumbais, und fühlen wollen, wie sich ein mit Händen gegessenes Essen in Äthiopien anfühlt, und am eigenen Leib spüren, wie weich das Wasser im Toten Meer ist und wie sanft sich feinste chinesische Seide auf der Haut anfühlt. Tourismus ist die grösste unter den kleinen Fluchten aus der digitalen Welt. Eine der Wachstumsbranchen schlechthin. Es sind unsere Sinne, die Betätigung fordern: High Touch auf allen Ebenen. Wir wandern in unberührten Berglandschaften, hacken Holz vor der einsamen Hütte in Kanada, fühlen den Regen beim Laufen durch den Wald ‒ oder investieren einfach nur viel Zeit in unsere Gärten, um jeden Tag beim Feigenbaum vorbeizuschauen, um zu fühlen, ob die Früchte schon reif sind.

Wahrscheinlich können wir gar nicht sinnlich verarmen, wie manche behaupten, weil unsere Sinne immer einen Weg finden, um auf ihre Kosten zu kommen. Deswegen ist High Touch genauso Big Business wie High Tech. Es ist uns offenbar sehr wichtig, unsere Sehnsucht nach sinnlicher Erfahrung zu befriedigen. Gerade dann, wenn wir merken, dass Sie eingeschränkt wird.

Unser Tastsinn könnte wahrscheinlich noch mehr Zuwendung vertragen. Für die Erfahrung unserer Umwelt ist er der wichtigste überhaupt. Nicht nur am Wochenende. Halten Sie ihn beschäftigt, er wird sich freuen.

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