Ellen Brennan sieht nicht aus wie eine Draufgängerin, ihre ruhigen, blauen Augen strahlen inneren Frieden aus und zeigen keine Anzeichen von Sucht nach Adrenalinstössen.
Ellen Brennan ist eine Wingsuit-Fliegerin. Sie fliegt mit über 200 km/h und ist die schnellste fliegende Frau der Welt. Sie erfüllte sich ihren Traum und zog aus ihrer Heimat Utah ins Paradies der Adrenalinsüchtigen, die Schweizer und französischen Alpen, ins Eldorado für all jene, die sich danach verzehren, den ältesten Traum der Menschheit Wirklichkeit werden zu lassen: Das Fliegen. „Schon als Kind habe ich immer vom liegen geträumt und an meinem 18. Geburtstag machte ich meinen ersten Fallschirmabsprung. Es war sensationell, und mein Vater sagte, das kannst du auch öfter tun, wenn du willst. Danach führte eins zum anderen, und mit einem Mal sprang ich in einem Wingsuit von Steilhängen in der Schweiz und … (Ellen lacht) … und da bin ich geblieben! Verstehst du“, fährt sie fort, „ich habe immer davon geträumt loszurennen, zu springen und dann zu fliegen, heute träume ich von wirklichem Fliegen, ich träume davon, hoch oben in den Lüften zu sein.“
OPEN: Wann hast du zum ersten Mal einen Wingsuit benutzt?
ELLEN BRENNAN: Ich habe nie gedacht, dass ich mal eine BASE Springerin würde, bei mir stand immer … und das klingt jetzt komisch, aber bei allem, was ich unternehme, stand und steht immer Sicherheit im Vordergrund …(Ellen sieht mich an, sieht das Erstaunen in meinem Gesicht und lacht laut los.) Darum der Wingsuit. Es gibt nichts Sichereres als einen Wingsuit!
Nichts Sichereres …?
(Wieder sehr ernst). Sicherheit kommt für mich immer zuerst. Ich habe mit Fallschirmspringen angefangen, und weil wir meist aus Fesselballons abgesprungen sind, brauchte ich einen BASE- Jump-Fallschirm, einen der sich mit mehr Sicherheit öffnet. Also habe ich BASE Jumping gelernt und gemerkt, dass auch Klippen grossen Spass machen. Aber Klippensprünge können sehr gefährlich werden, denn wenn sich dein Fallschirm in die verkehrte Richtung öffnet, kannst du gegen die Felswand geschleudert werden und dich verletzten. Man ist einfach zu nah am Boden.
Zu nah am Boden?
Felswände sind auch Boden, oder nicht? Vertikale Böden.
Verstehe, so lange du in der Luft bist, ist alles perfekt.
Genau! Und darum habe ich Wingsuitspringen gelernt, ich wollte so schnell wie möglich in die Mitte des Tals fliegen, um meinen Schirm in freiem Luftraum zu öffnen.
Wie fühlt sich Luft eigentlich an?
Sie fühlt sich … hm, meinst du körperlich oder emotional?
Beides. Mich interessiert, ob Luft irgendwann hart wird, immerhin fliegst du mit enormer Geschwindigkeit.
Die ersten drei Sekunden, bis dein Wingsuit fliegt, sind die heikelsten, du springst von der Klippe und spürst noch keinen richtigen Luftwiderstand, darum kannst du nicht steuern … beim Wingsuitfliegen ist Geschwindigkeit dein Freund! Wenn du dann Geschwindigkeit aufnimmst, geht es viel besser. Es dauert ein paar Sekunden, bis du die Luft im Gesicht spürst, aber dann weisst du mit einem Schlag … wow, ich fliege, ich werde schneller, ich bin in Sicherheit (lacht) … Wind im Gesicht ist ein sehr beruhigendes Gefühl.
Es gibt also einen Übergang vom freien Fall hin zum Fliegen?
Ja! Die Anzüge füllen sich mit Luft und versteifen … wenn du abspringst, hast du nicht viel Energie, der Anzug ist noch weich, und du bist dem Absprungwinkel ausgeliefert, und das ist ein heikler Moment. Wenn du dann weiter fällst, füllt sich der Anzug mit Luft und so wie er steifer wird, kannst du loslegen, und die Luft (sie lacht und bläst die Luft mit einem sachten Pfeifton aus) …
… und die Luft wird weicher. Ist das das richtige Wort? Wie fühlt sich das an?
Die Luft wird kräftiger, mächtiger. Anders kann ich es nicht usdrücken, sie ist nicht wirklich weich, sie ist … (sie zögert einen Augenblick und spricht das Wort dann mit starker Betonung und ernstem Gesichtsausdruck aus) reine Kraft. Ich spüre Kraft, wenn ich springe, und die Luft mich umgibt.
Wenn du jetzt darüber sprichst, hast du genau dasselbe Lächeln auf dem Gesicht, wie in deinen Filmen, wenn du fliegst. Ist das ein ganz besonderer Moment?
Es ist DER Moment, es ist totale Begeisterung, Erregung.
Wenn du fliegst und dann diese Empfindung in der Luft hast, kommst du da an einen Punkt, wenn du sagen würdest, dieses Element – Luft– ist mein Element? Mehr als alles andere?
Ja … (sie lächelt fast schüchtern)… ich meine …es ist komisch, aber in der Luft fühle ich mich tatsächlich zu Hause. Sehr sogar.
… zu Hause? Ich hatte mir diese Frage so notiert: Fühlst du dich wohl in der Luft? Zu Hause ist so viel stärker.
Wenn ich in der Luft bin, wenn ich fliege, habe ich das Gefühl, dass ich mich entspannen kann, dann fühle ich mich sicher und ja, ich fühle mich wohl und zu Hause. Für mich ist Luft das machtvollste Element der Welt.
Hast du eigentlich auch Angst? Kennst du das Gefühl?
Ich hatte immer schreckliche Angst vorm Fahrradfahren. (Ellen lacht nicht)
Radfahren?
Ja! Ich habe dann zusammen mit kleinen Kindern Fahrradunterricht genommen. Jetzt kann ich‘s, aber es ängstigt mich immer noch. Man ist so nah am Boden, verstehst du, an all dem Dreck und den Sachen da, alles ist vollkommen unvorhersehbar, da könnte jeden Moment irgendein Steinbrocken rumliegen … ich mag den Boden einfach nicht. Erde ist nicht mein Element. Wasser ist kraftvoll und es fasziniert mich, aber es ist auch ein bisschen erdrückend, weisst du, ich denke dann immer, hier kannst du überhaupt nicht atmen …
(lacht) … das kannst du auch nicht! Es ist Wasser. Im Wasser kann man nicht atmen.
Eben … wenn ich aber in der Luft bin, kann ich einfach loslassen und bin ganz da.
Fliegst du also jeden Tag?
Im Moment ist das aus vielerlei Gründen kompliziert, ich bin im siebten Monat schwanger (sie strahlt übers ganze Gesicht).
Dann fliegst du also nicht, oder doch?
Zurzeit nicht, ich habe vor zwei Monaten aufgehört, als ich geheiratet habe.
Herzlichen Glückwunsch! Hast du in der Luft geheiratet?
(lacht laut) Nein, nein, nicht in der Luft, tatsächlich haben wir uns auf dem Wasser trauen lassen.
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ellen-brennan.com
➝ OPEN NOTE
Carl Boenish war ein US-amerikanischer Filmemacher, der als Vater des BASE Jumping gilt. Das Akronym B.A.S.E. schuf er 1978, es steht für Building (Gebäude), Antenna, (Antenne), Span (z.B. Brücke), Earth (Erde).