Junge Frauen tun es, Kim Kardashian sowieso, der Papst und Obama ebenfalls, und selbst ein Affe hat es schon getan: den Arm ausstrecken und das Gesicht ins Handy halten.
Sie alle schicken Selfies als kleine Flaschenpost in die weite virtuelle Welt und rufen: Hallo! Das bin ich hier! Echt! Ist das nicht toll?
Wer sich als erwachsener Mensch als Selfist outet, hat ein ernstes Problem. Wer so was macht, könnte genauso gut sagen, die Klimakatastrophe sei toll. Die Reaktionen reichen von Mitleid bis Verständnislosigkeit. So sieht die New York Post im Selfie den Untergang der westlichen Zivilisation anbrechen und viele Psychologen fürchten, dass uns da gerade eine Generation selbstbezogener Ich-Fetischisten heranwächst, die kritiklos ihre obsessiven Körperideale lebt und fröhlich ihrem Konsumismus frönt.
Die Formel, die alles auf den Punkt bringt, ist auch schon gefunden: N=S/h, Narzissmus = Selfies / Stunde. Selbst der Versuch der australischen Marketingexpertin Karen Nelson-Field, Selfies als Self-Branding zu beschreiben, bei dem sich junge Menschen strategisch im Wettbewerb des freien Markts positionieren, nährt am Ende nichts als den bösen Verdacht, dass wir alle nur kleine Rädchen im grossen Spiel der Wirtschaft sind, selbst dann, wenn wir ganz naiv meinen, nur mal schnell ein Foto zu schiessen und zu posten.
Aber geht es tatsächlich um Fotos? Um Narzissmus? Eher nicht. Selfies sind Teil einer neuen Dauerunterhaltung, in die Bilder, Worte, Anekdoten, Witze, Gedanken in ein offenes Gespräch eingespeist werden, pausenlos und gerne, mit allen und mit jedem. Selfies sind genauso, wie Dialoge sein können: faszinierend und langweilig, tiefschürfend und banal, hintergründig und peinlich.
Themen und Orte reichen vom Locker-Room-Talk bis zum Familiengespräch am Mittagstisch, von der Sitzung beim Therapeuten bis zum Abendplausch in der Kneipe, vom Turteln mit der Freundin bis zum Telefonat mit der Oma. Sie sind offen für alles, was dem Ich, das spricht, gerade wichtig ist. Ganz gleich, ob es der Abwasch ist, der Eiffelturm im Hintergrund, eine Oscar-Verleihung oder die Trauerfeier für Nelson Mandela. Sie können Kunst und sie können Kitsch sein, wie im richtigen Leben.
Und die Fotos? Früher waren sie etwas Seltenes und Wertvolles, das man sorgfältig ins ledergebundene Familienalbum klebte. Heute sind sie so schnell und kurzlebig wie die Kurznachricht, die man vom selben Handy losschickt, mit dem man das Selfie schiesst. Sie halten nichts mehr fest, sind Teil eines rasant dahinfliessenden Flusses. Sie verweisen nicht mehr auf eine entfernte Vergangenheit, sondern radikal auf ein Hier und Jetzt. Sie sind, wie der Schauspieler James Franco meint, eher eine neues „Kommunikationsmedium als ein Zeichen von Eitelkeit.“
Als Kommunikationsmedium haben Selfies vielleicht eine Funktion, die am Ende so neu gar nicht ist. Die Kuratorin Kyle Chayka von der National Selfie Portrait Gallery sagt: „Sie entstehen aus dem gleichen Grund wie Selbstporträts bei Rembrandt: Man will sich selbst super aussehen lassen.“ Chaykas These, dass wir alle Rembrandts sind, stellt keinen Niedergang in den Mittelpunkt, sondern feiert den Zugewinn an Freiheit. Wer sich für ein Selfie in Pose bringt, darf sich also gern auf Albrecht Dürer berufen, den grossen Maler der deutschen Renaissance, der sich in seinem berühmten Selbstbildnis aus dem Jahre 1500 als Jesus malte. Ganz bewusst, das war seine Revolution: sich selbst als Mensch und Maler in den Mittelpunkt ästhetischer Darstellung zu stellen.
Das Selfie macht nichts Anderes, massenhaft, schnell und demokratisch. Es ist das Ikea des Selbstportraits. Das noch zum Schluss: Bei allem Medien-Hype, Selfies sind in den sozialen Netzwerken gar nicht so präsent, wie es manche uns glauben machen. Der New Yorker Digital-Humanities-Forscher Lev Manovich hat herausgefunden, dass nur vier Prozent aller auf Instagram geposteten Fotos Selfies sind. Ganze vier Prozent.
Liebe Selfisten, da geht noch was.
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nationalselfieportraitgallery.tumblr.com
selfiecity.net
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James Franco: “The Meanings of the Selfie”, New York Times, 26.12.2013